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Grazie

Grazie

Titel: Grazie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chelsea Cain
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streiften fast sein Hemd. Ihr Blick huschte hin und her,
ihr Verstand suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Die roten Flecken auf
ihren Wangen ließen sie noch schöner aussehen.
    Dann sammelte sie sich, strich sich das Haar mit der freien
Hand glatt, runzelte die Stirn. »Liebling«, sagte sie langsam und
betonte jedes Wort dabei, »das ist eine sehr schlechte Idee.«
    Er erwiderte nichts. Es erforderte seine ganze Konzentration,
das zu tun, was er tun musste. Er ließ sie zurück und ging ins
Badezimmer. Es war ein kleines Bad, ein Klo, ein Toilettentisch und
eine Duschkabine, alles auf engstem Raum. Der Aquarelldruck eines im
Schnee stehenden Hirschs hing über der Toilette. Der Spiegel über dem
Toilettentisch war von großen runden Leuchten gesäumt. Er stützte sich
einen Moment ab, um einen Schwindelanfall vorübergehen zu lassen. Er
hatte das Gefühl, als würde sein Herz zu langsam schlagen. Seine rechte
Seite pochte schmerzhaft. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn,
ging in die Knie und öffnete die Schublade des Toilettentischs unter
dem Waschbecken. Dann griff er hinter die Klopapierrollen und holte das
kleine Handy und das gefaltete Blatt Papier hervor, die er beide am
ersten Abend zusammen mit den Handschellen dort versteckt hatte.
    Er ging mit Handy und Papier ins Wohnzimmer zurück, wo
Gretchen völlig verdreht dalag, weil sie versucht hatte, sich aus den
Handschellen zu befreien.
    »Das sind Polizeihandschellen«, sagte er. »Die geben nicht
nach.«
    Sie verharrte still und sah ihn schwer atmend an.
    Er hielt das Telefon in die Höhe, sodass sie es sehen konnte,
und schaltete es an. Eine Reihe von Tönen zeigte an, dass es aktiv war.
Dann ging er zur Bar und legte es auf den Tresen. Sie würden das Signal
lokalisieren. Aber es konnte Stunden, wenn nicht Tage dauern. Er hätte
Henry natürlich anrufen können, aber er wollte nicht, dass sie ihn zu
früh fanden, bevor die Pillen ihr Werk verrichten konnten.
    Er griff in seine Hosentasche und legte den Schlüssel für die
Handschellen neben das Handy, wo Henry ihn finden würde.
    Dann schüttete er den Inhalt der Vicodin-Flasche auf den
Tresen. Die Pillen hüpften über den Granit und blieben an seiner
offenen Hand liegen. Jetzt war es also endlich so weit. Er hatte in den
letzten Jahren so viel daran gedacht, dass er beinahe enttäuscht war.
Es fühlte sich so vertraut an, so natürlich. Er hatte sich schon seit
seiner Entlassung aus dem Krankenhaus langsam umgebracht. Jetzt
beschleunigte er es nur ein wenig. Die Kunst bestand darin, das
richtige Maß zu finden. Er nahm eine in den Mund und ließ sie auf der
Zunge liegen, lutschte daran, bis der bittere Geschmack seine
Nebenhöhlen erfüllte. Er wollte es schmecken. Mit weit offenen Augen.
Er wollte es voll und ganz erfahren. Wenn er schon sterben würde, dann
wenigstens bewusst. Das hatte ihn Gretchen gelehrt.
    Er schüttete sich noch ein paar Pillen in die Hand, steckte
sie in den Mund und schleckte sich das bittere, kreideartige Pulver von
den Fingern.
    »Archie«, hörte er Gretchen sagen. »Tu es nicht. Der Wald
brennt. Riechst du es nicht?«
    Er schnupperte, und dann roch er es, es war wie ein
Lagerfeuer. Er lachte. Sie befanden sich in der Schneise des
Waldbrands. Einfach perfekt.
    »Du kannst mich hier nicht gefesselt liegen lassen«, sagte sie.
    »Sie finden dich«, antwortete er. »Und wenn nicht, sind wir
eben beide tot.«

_59_
    S ie werden sich aber nicht übergeben,
oder?«, sagte Henry zu Susan.
    Sie hatte ihr Fenster heruntergelassen und den Kopf gegen die
Wagentür gelehnt. Seit einer Stunde fuhren sie auf dem kurvenreichen
Highway 20 bergauf durch den Wald und gelegentlich durch Ortschaften,
die aus nicht viel mehr als einer Tankstelle bestanden, und Susan war
schlecht vom Fahren. Die Luft war heiß und trocken, und der Fahrtwind
blies ihr die Haare ins Gesicht. Jede Unebenheit erinnerte sie an ihre
gebrochene Nase.
    »Es geht schon«, sagte sie in näselndem Ton und schluckte den
warmen Speichel, der sich in ihrem Rachen gesammelt hatte. Sie wusste
nicht, ob die Übelkeit von Henrys Fahrstil kam oder von der
Kohlenmonoxidvergiftung, aber sie tippte auf Ersteres.
    Sie waren gut vorangekommen. Eine Autokarawane schlängelte
sich von den Bergen herunter, aber außer Fahrzeugen der Forstverwaltung
und der Feuerwehr gab es kaum Verkehr in ihre Richtung. Bis auf den
leichten Lagerfeuergeruch in der Luft hatten sie von dem Waldbrand noch
nichts entdeckt.
    Susan sah ein grünes

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