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Green, Simon R. - Todtsteltzers Erbe

Green, Simon R. - Todtsteltzers Erbe

Titel: Green, Simon R. - Todtsteltzers Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Todtsteltzers Erbe
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nicht mit
Lewis treffen, ohne zu riskieren, dass sie illoyal ge
genüber Douglas wirkte, und dem König hatte man
schon genug wehgetan. Alles lief darauf hinaus, dass
Anne niemanden mehr hatte, mit dem sie reden
konnte, oder zumindest niemandem, dem sie noch
trauen durfte. Also kam sie jeden Tag früh ins Büro
und ging erst spät wieder, und sie arbeitete und arbei
tete, bis sie ganz benommen war, denn mehr war ihr
nicht geblieben. Sie brachte das Parlament und seine
Sicherheitsbelange unter ihre Kontrolle, wie sie das
eigene Leben nicht zu kontrollieren vermochte.
    Sie wandte den Blick fast widerstrebend zur un
tersten Schublade im Schreibtisch, die ganz fest
abgeschlossen war; dort bewahrte sie die hellrosa
Federboa auf, die Jesamine ihr geschenkt hatte. Sie
hätte das Ding wegwerfen oder jemandem schenken
sollen, der damit etwas anfangen konnte oder einfach
nur tapfer genug war, es in der Öffentlichkeit zu tra
gen. Aber irgendwie konnte sie sich dazu nicht
überwinden. Die Boa war ihr wichtig; sie repräsen
tierte etwas Wertvolles für sie, obwohl Anne nicht
recht wusste, was. Vielleicht Freiheit. Die Freiheit,
eine andere zu sein als die langweilige alte zuverläs
sige Anne Barclay. Eine Frau, die den Mumm auf
brachte, loszuziehen und sich ein eigenes Leben auf
zubauen; die wusste, wie sie sich amüsieren konnte.
Die all das tat, wovon Anne Barclay zwar träumte,
wozu sie jedoch noch nie die Zeit oder den Mut ge
habt hatte. Eine Frau, die zu leben verstand, nicht nur
zu existieren.
    Ein einzelner Spiegel stand auf dem Schreibtisch,
klein, schlicht und funktionell. Nichts davon sprach
von Eitelkeit. Anne betrachtete ihr Gesicht darin und
erkannte es nicht wieder. Das war nicht sie – diese
grimmige Maske einer finsteren Miene mit hohlen,
verzweifelt blickenden Augen; diese alte, tote Frau.
    Ihr habt ja keine Ahnung, was ich mir wünsche.
Niemand von euch weiß, was ich mir wünsche. Was
ich brauche. Ich möchte … tanzen gehen, skandalöse
Klamotten tragen und die Art von schäbiger, billiger
Kaschemme aufsuchen, wo Leute wie Anne Barclay
nicht hingehören. Ich möchte zu viel trinken, mich
zur Schau stellen, irgendeinen gut aussehenden Bur
schen von der Tanzfläche und auf die Toilette zerren
und groben, lieblosen Sex mit ihm haben. Ich möchte
Dinge tun, derer ich mich am Morgen danach schä
me. Ich möchte alles tun, was ich nicht tun soll, alles,
was mir nie gestattet wurde. Ich möchte … wie Jes
sein und wie Lewis und mir nie einen Scheiß daraus
machen.
    Oh Gott, ich möchte mich lebendig fühlen, ehe es
zu spät ist!
Als unerwartet jemand an die Bürotür klopfte, fuhr
Anne zusammen und ihr Gedankengang wurde un
terbrochen. Vor Schuldgefühl lief sie rot an und be
trachtete die geschlossene Tür argwöhnisch. Sie er
wartete keine Besucher, und ihre Mitarbeiter wussten
es besser, als sie zu stören, wenn sie gesagt hatte,
dass sie über einiges nachdenken musste. Sie warf
einen Blick über die Schulter auf den Monitor, der
für den Flur draußen zuständig war. Dort wartete ge
duldig der ehrenwerte Abgeordnete von Virimonde,
Michel du Bois. Anne zog eine Braue hoch. Es lag
lange zurück, dass du Bois zuletzt etwas von ihr ge
wollt hatte, und der Grund bestand vor allem darin,
dass er von vornherein wusste, er würde es nicht be
kommen. Annes schönste Erinnerung an Virimonde
war die an den Zeitpunkt ihrer Abreise von dort.
Verdammte Provinzöde! Auch hatten die Leute dort
Anne nie zu würdigen verstanden. Letztlich zuckte
sie nun aber doch die Achseln und forderte ihren Be
sucher auf einzutreten. Immerhin war es jemand, mit
dem sie reden konnte, und sie war neugierig.
Michel du Bois trat mit der üblichen einstudierten
Würde ein, und er trug für die anstehende Plenarsit
zung seine allerbesten Sachen. Er verneigte sich tief
vor Anne, ehe er einen Stuhl heranzog und sich ihr
gegenüber setzte, ohne sie erst um Erlaubnis zu fra
gen. Er lächelte sie an. Sie erwiderte es nicht. Das
hätte er nur als Zeichen der Schwäche gedeutet. Was
immer er wollte – es musste um etwas gehen, was er
anderswo nicht bekam. Du Bois arrangierte penibel
das formelle Gewand und erwiderte Annes Blick mit
einer Miene, die sehr an Aufrichtigkeit erinnerte.
»Virimonde hat einen neuen Paragon gewählt«,
erklärte er unverblümt. »Einen außerordentlich tüch
tigen jungen Mann namens Stuart Lennox, einen
Mann mit hervorragenden Aussichten. Entstammt
einer guten

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