Green, Simon R. - Todtsteltzers Rückkehr
indem sie ihn umarmte und sachte wiegte, und er
klammerte sich wie ein Kind an sie. Aber diesmal
hielt er sich weiter an ihr fest, als sie ihn wieder freigeben wollte. Sie sahen einander an, ein Gesicht direkt vor dem anderen, und dann küsste James sie impulsiv auf die Lippen. Anne war ehrlich erstaunt. Es
fiel ihr nach wie vor schwer, daran zu denken, dass
sie inzwischen schön war und sich ein Mann zu ihr
hingezogen fühlen konnte. Und James kam dafür ohnehin nicht in Frage. Finn hatte sich in diesem Punkt
unmissverständlich ausgedrückt. Anne erwiderte James’ Kuss jedoch, legte aufs Neue die Arme um ihn
und gestattete ihrer Leidenschaft freien Lauf. Warum
nicht?, dachte sie heftig. James kannte mein altes
Selbst nie. Soweit er weiß, war ich immer schön. Und
es wird Zeit, dass ich etwas für mich habe. Etwas,
das nicht von Finn kommt.
James zeigte sich ihr gegenüber schüchtern, und
Anne musste ihn anleiten, ihn ermutigen, locken, ihm
alles zeigen. Das war eine neue Rolle für sie, und sie
hatte Spaß daran. Sie verschloss die Tür, wies ihn an,
sich rücklings auf den Boden zu legen; dann setzte
sie sich rittlings auf ihn, und sie liebten sich heftig,
beinahe brutal. Und James’ offene Hingabe machte
es Anne möglich, die Art Frau zu sein, die sie schon
immer hatte sein wollen, aggressiv und wollüstig. Es
fühlte sich gut an, ach so gut! Und sie tat dabei ja
nichts Falsches. Niemand wurde verletzt. Sie baute
sein Selbstvertrauen auf, wie er es bei ihr Buch tat.
Zwei verwaiste Seelen, die nur einander hatten.
Aber Anne war in mancherlei Hinsicht immer
noch sehr unerfahren. Als sie sich anschließend in
den Armen lagen und jeder den eigenen Gedanken
nachhing, hätte Anne womöglich etwas entdeckt,
falls sie sich nur der Mühe unterzogen und Ihm in die
Augen geblickt hätte. Etwas, angesichts dessen sie
sich die Frage gestellt hätte, wie aufrichtig James’
Motive tatsächlich waren. Ob er vielleicht schlau genug und kalt genug war, um sie zu benutzen und sich
so der Steuerung durch Finn zu entziehen …
Aber sie sah nicht hin. Und er tat es ebenfalls
nicht.
An anderer Stelle, in einem unauffälligen Zimmer,
tagte gerade der Schattenhof. Diesmal ohne das tröstliche Hologrammbild der Imperatorin Löwenstein
und ohne eine clevere Nachbildung ihres wüsten
Hofstaats. Die meisten alten Treffpunkte des Schattenhofs waren zwischenzeitlich entdeckt und ausgehoben worden, und viele alte Anhänger hatten sich
verlockt gesehen, sich den aussichtsreicheren Anliegen der Reinen Menschheit und der Militanten Kirche zu verschreiben. Nur wenige bewahrten den alten
Glauben an die Rückkehr der Familien. Der Schattenhof verfügte nach wie vor über Geld und Einfluss
und eine Hand voll fanatischer Seelen, die jederzeit
für ihn töten oder sterben würden, aber die Bewegung war inzwischen doch nur noch ein Schatten ihres früheren Selbst.
Neun Männer und Frauen in schwarzen Mänteln
und kunstvoll verzierten schwarzen Masken aus Seide und Metall und Leder – und auf diese Weise in
sorgsam gehüteter Anonymität – waren alles, was
von der herrschenden Elite der alten Zeiten noch existierte. Und sie hatten sich in einem kahlen Zimmer
um einen kahlen Tisch versammelt, um sich über
Geld zu zanken. Der erfolgreichste Versuch des
Schattenhofes, das Interesse an den alten Familien
neu zu beleben, war die äußerst populäre Videosoap Die feine Gesellschaft. Der Erfolg war so erstaunlich
und warf so große Profite ab, dass selbst die Buchhalter der Videosender nicht alles verstecken konnten. Die Elite des Schattenhofs war nun unglaublich,
ja geradezu peinlich reich geworden. Und einige
zeigten sich entschlossen, das auch zu bleiben.
»Die feine Gesellschaft funktioniert bislang prima«, fand eine schlanke Frau mit Dominomaske.
»Ich sehe keinen Grund, irgendetwas zu ändern.«
»Und ich sage, wir haben vergessen, was Die feine
Gesellschaft ursprünglich einmal werden sollte!«,
raunzte eine andere Frau mit einer schwarzen Maske,
die reichlich mit Pailletten besetzt war. Sie wedelte
heftig mit einem Papierfächer voller erotischer Darstellungen. »Die Serie war einmal als Propaganda
geplant, eine Möglichkeit, unsere Botschaft bei den
Massen zu verbreiten. Sie sollte ein Mittel sein, niemals ein Zweck.«
»Aber sie ist inzwischen die erfolgreichste Soap
Opera der Videogeschichte«, schnurrte ein haarsträubend fetter Mann auf einem Antigravstuhl.
»Und Ihr schlagt vor, das
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