Green, Simon R. - Todtsteltzers Rückkehr
geschlossen. Nur eine einzige Lampe brannte
über Angelo an seinem Schreibtisch. Er saß vorgebeugt da und murmelte vor sich hin. Tel wusste nicht
recht, ob der Bruder sein Eintreten überhaupt bemerkt hatte. Langsam und vorsichtig durchquerte Tel
die Düsternis und wich dabei den tieferen Schatten
aus, die auf Möbel hindeuteten. Der Teppich fühlte
sich … klebrig an unter seinen Schritten. Tel spürte,
wie ihm das Herz raste. Sämtliche Instinkte schrien
ihm zu, er hätte einen sehr gefährlichen Ort betreten.
Seine Augen passten sich an die schwache Beleuchtung an, während er sich Angelos Schreibtisch
näherte. Im Zimmer herrschte Chaos. Nichts lag an
seinem Platz, nichts war sauber, und Papiere, die
wichtig aussahen, lagen rings um den Schreibtisch
auf dem Boden verstreut. Tel gab sich Mühe, nicht
darauf zu treten. Er blieb vor dem Tisch stehen, und
Angelo hob endlich den Kopf und sah ihn an. Er bedachte seinen Bruder mit mürrischem Blick und traf
keinerlei Anstalten, ihn zu begrüßen. Angelos Haare
waren lang und zottig und der Bart seit Zeitaltern
nicht mehr getrimmt worden. Das Gesicht war unnatürlich blass, und die Augen zeigten das düstere, gefährliche Funkeln eines Propheten aus der Frühzeit.
Die Hände spielten mit einem langen, bösartig aussehenden Dolch, und Tel war auf einmal sehr froh
darüber, dass ihn ein breiter Schreibtisch von seinem
Bruder trennte. Er wandte den Blick von Angelos
beunruhigendem Ausdruck ab und bemerkte auf
einmal, dass etwas, was er für ein Schmuckstück
gehalten hatte, in Wahrheit jemandes Hinterkopf
war. Tel ging näher heran, um ihn besser zu erkennen. Was er dort sah, das war ein abgetrennter Menschenkopf mit eingesunkenen Augen, der Mund zu
einem niemals endenden Entsetzensschrei geöffnet.
Der Kopf steckte auf einem Briefhalter, und das Blut
an der Basis wirkte noch feucht.
»Was ist passiert, Angelo?«, fragte Tel in gleichmäßigem Ton. »Ist dir das Bürospielzeug ausgegangen?«
»Oh, vergiss den«, sagte Angelo mit überraschend
ruhiger und vernünftiger Stimme. »Er war ein Verräter. Überall sind Verräter! Verräter und Ketzer und
… Aber ich benutze sie. Verschwende nichts und sei
unabhängig, so hat es unsere liebe Mutter immer gesagt. Ich wollte sie erst gestern anrufen, aber … Ich
rede mit dem Kopf, weißt du, und er redet mit mir.
Gott spricht durch diese toten Lippen zu mir und erklärt mir Seinen Willen. Denn ich bin Sein Engel,
und Er liebt mich sehr. Ich weiß nicht recht, was Er
für dich empfindet, Tel. Du warst immer sehr grausam zu mir, als wir noch klein waren. Die Wege Gottes sind manchmal unergründlich und oft richtig beängstigend, aber wer sind wir, dass wir sein Tun in
Frage stellen dürften? Wirf dem Sendboten nicht die
Sendung vor, lautet mein Motto. Falls Gott Menschen töten möchte, muss Er Seine Gründe haben.
Das einzige Problem dabei ist: Ich brauche immer
wieder neue Köpfe! Sie nutzen sich so schnell ab,
und oft fällt es mir schwer, genau zu verstehen, was
Gott sagt, weil der Mund verfault und zerfällt. Ich
weiß, ich weiß, der schlechte Handwerker gibt dem
Werkzeug die Schuld, aber … der Geist ist willig,
aber das Fleisch ist schwach. Trotzdem, nie besteht
Mangel an Verrätern und Ketzern. Manchmal, wenn
ich es eilig habe, finde ich sie unter meinen eigenen
Leuten. Gott mag es nicht, wenn man Ihn warten
lässt.«
Tel nickte langsam, darauf bedacht, eine ausdruckslose Miene zu zeigen. Kein Wunder, dass Finn
Angelo auswechseln wollte. Womöglich untergrub es
den Glauben der Fanatiker, die der Militanten Kirche
angehörten, falls durchsickerte, dass ihr verehrtes
geistliches Oberhaupt völlig durchgeknallt war. Tel
seufzte insgeheim. Vielleicht … falls er Angelo wegbringen konnte, auf Distanz zu alldem und dem
Druck seines Jobs … vielleicht konnte man ihn dann
wieder zu Verstand bringen. Mutter würde ihn aufnehmen. Das tat sie immer.
Angelo war von jeher ihr Lieblingssohn.
»Du kannst nicht hierbleiben, Angelo«, sagte Tel
vorsichtig. »Es ist nicht mehr sicher. Du musst jetzt
mit mir kommen.«
Er reichte seinem Bruder über den Schreibtisch
hinweg die Hand, aber Angelo prallte sofort zurück.
Eine bedächtige Gerissenheit zeigte sich in seinem
Blick, und der Tonfall stieg scharf.
»Nein, hier ist mein Platz! Ich habe dieses Zimmer
zu einer heiligen Stätte gemacht. Ich kann niemals
weggehen! Die Welt ist schmutzig und voller Sünde,
voller Lügner und
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