Gregor und der Fluch des Unterlandes
Übertreibung, zehn Minuten lang lachen.
Heute hatte er den altbewährten Witz erzählt: »Was ist der Unterschied zwischen einem Beinbruch und einem Einbruch? Nach einem Beinbruch muss man drei Monate liegen, nach einem Einbruch drei Monate sitzen.« Unglücklicherweise hatte Thalia gerade den Mund voll, als die Pointe kam, und wäre vor Lachen fast erstickt.
»Meinst du, das wächst sich aus?«, flüsterte Gregor Luxa zu.
»Das hoffe ich. Hazard hat es sich in den Kopf gesetzt, sich mit ihr zu verbinden«, flüsterte Luxa zurück.
Gregor aß eine herzhafte Mahlzeit aus gegrilltem Fisch, eingelegten Pilzen und frischem Brot. Er war nicht sehr gesprächig, weil er mit den Gedanken noch immer bei Ripred und dem Fluch war. Nach dem Abendessen, als die anderen zum Spielen in Luxas Wohnung gingen, gab Gregor vor, ins Museum zu müssen. In Wirklichkeit brauchte er Zeit zum Nachdenken. Obwohl Ripred es verboten hatte, wäre Gregor am liebsten zu Vikus gegangen und hätte ihm alles erzählt. Aber Ripred hatte recht, Vikus würde womöglich den Rat informieren. Und die meisten Ratsmitglieder waren Idioten. Wenn er nur rauskriegen könnte, was in der Prophezeiung stand, die Ripred erwähnt hatte …
Nerissa! Gregor drehte sich auf dem Absatz um und ging auf schnellstem Weg zu dem Raum, in dem Sandwichs Prophezeiungen eingemeißelt waren. Dort verbrachte Nerissa viel Zeit. Wenn irgendjemand Gregor verraten konnte, was auf ihn zukam, dann war sie es. Als Luxas Cousine gehörte sie zur königlichen Familie, und als alle geglaubt hatten, Luxa wäre von den Ratten getötet worden, hatte Nerissa sogar ein paar Monate lang die Krone getragen. Doch Nerissa besaß nicht die unverwüstliche Natur ihrer Cousine. Sie war dünn, fast mager, labil, und sie hatte die Fähigkeit, Ereignisse vorauszusehen – manchmal. Sie hatte ihre Visionen ebenso wenig im Zaum wie Gregor sein Talent als Wüter. Oft wusste sie nicht, ob etwas, was sie sah, in einerStunde geschehen würde oder ob es schon vor hundert Jahren passiert war. Doch wenn sie richtiglag, dann auch hundertprozentig.
Wie Gregor gehofft hatte, war Nerissa allein in dem Raum mit den Prophezeiungen. Sie sah jetzt wieder so aus wie in der Zeit, ehe sie Königin wurde. Die langen Haare fielen ihr wirr bis auf die Hüften, und sie trug mehrere Schichten Kleider übereinander, die nicht zusammenpassten. »Sei gegrüßt, Überländer«, sagte sie mit ihrem gespenstischen Lächeln.
»Hi, Nerissa«, sagte er und entschloss sich, gleich zur Sache zu kommen. »Ich hab über die Prophezeiungen nachgedacht. Die von mir handeln. Gibt es da noch mehr?«
»Ja«, sagte Nerissa. »Insbesondere eine.«
»Soll ich schon wieder den Fluch umbringen?«, fragte Gregor.
Sie sah ihn merkwürdig an. »Das ist undeutlich. Möglicherweise wird er sterben«, sagte Nerissa. »Warum fragst du, Gregor?« Er gab keine Antwort, weil er damit Ripred verraten hätte. »Jemand hat dir schon wieder etwas über den Fluch in den Kopf gesetzt. Doch du kannst demjenigen ausrichten, dass die Prophezeiung, von der du sprichst, in der Zukunft liegt, nicht in der Gegenwart.«
»Woher weißt du das?«, fragte Gregor.
»Weil gewisse Ereignisse, von denen sie berichtet, noch nicht eingetreten sind. Möglicherweise werden sie auch nie eintreten. Und ich vermute, dass derjenige das sehr wohlweiß. Vielleicht glaubt er, das Schicksal beeinflussen zu können, doch das kann er nicht«, sagte Nerissa.
Sie weiß, dass es Ripred war, dachte Gregor. »Zeigst du mir die Prophezeiung?«, fragte er.
»Nein. Sie kann dir jetzt nichts nützen. Um die Wahrheit zu sagen, glaube ich, dass es sogar Schaden anrichten könnte, wenn du sie jetzt schon kenntest. Um deiner Sicherheit willen und der Sicherheit derer, die du liebst, solltest du die Prophezeiung unter gar keinen Umständen lesen. Wenn du natürlich Vikus danach fragen möchtest, kann ich dich nicht davon abhalten«, sagte Nerissa.
Was konnte er nach so einer Warnung noch sagen? Außerdem hatte Gregor sich ja schon dagegen entschieden, Vikus zu fragen. Also zuckte er nur die Achseln, als ob es ihm egal wäre. »Nein, wenn du meinst, ich würde es nicht verkraften, dann lassen wir’s.«
Einerseits war er erleichtert, dass er sich wenigstens vorerst nicht damit auseinandersetzen musste, ob er den Fluch töten sollte. Nach dem, was Nerissa gesagt hatte, würde es vielleicht nie so weit kommen. Andererseits wusste Gregor, dass Nerissas Meinung Ripred nicht beeindrucken würde.
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