Gregor und der Spiegel der Wahrheit
Er strich ihre Decken glatt. »Pass auf dich auf, okay?«
»Du auch, Gregor. Bis bald«, sagte sie.
»Bis bald«, sagte er. Er küsste sie auf die Stirn und sie lächelte.
Sie mussten es riskieren, die Großmutter für kurze Zeit allein zu lassen, während sie in den Wäschekeller gingen. Aber es war sowieso unwahrscheinlich, dass sie versuchen würde aufzustehen. Und die Ratten würden nicht wiederkommen. Sie hatten ihr Ziel erreicht.
Sein Vater hatte den Trockner zur Seite geschoben. Jetzt war vor dem Schacht ein wenig Platz. Das Gitter stand offen. Weiße Nebelschwaden ringelten sich aus dem dunklen Innern. »Die Strömungen scheinen aktiv zu sein«, sagte Gregors Vater. »Die würden uns wahrscheinlich direkt ins Unterland tragen. Aber Ripred hat was von einer Fledermaus gesagt.«
Er hatte es kaum ausgesprochen, als ein großes pelziges Gesicht in der Öffnung erschien. Die Fledermaus sah ungewöhnlich aus – weiß mit auffälligen schwarzen Streifen von der Nase bis zu den Ohren.
Gregors Mutter hielt die Luft an, und Lizzie stieß einen spitzen Schrei aus. Für beide war es das erste Unterlandwesen, das sie zu Gesicht bekamen.
Boots dagegen streckte sofort die Hand aus und streichelte der Fledermaus übers Fell. »Oh, du siehst aus wie ein Zebra. Z wie Zebra. Hallo!«
»Seid gegrüßt«, schnurrte die Fledermaus. »Ich bin die, die man Nike nennt. Seid ihr bereit zur Abreise?«
Sie schauten sich an und umarmten sich wortlos.
»Wie … sollen wir aufsteigen?«, fragte Gregors Mutter die Fledermaus.
»Ihr müsst euch fallen lassen. Doch keine Sorge. Die Strömung ist so günstig, dass ihr mit oder ohne Flieger sicher landen werdet. Ich bin nur hier, damit ihr leichten Herzens reisen könnt«, sagte Nike. Damit verschwand sie aus ihrem Blickfeld.
Boots ging sofort zum Schacht. »Jetzt ich!«
Gregor packte sie und musste über ihren Eifer fast lachen. »Ich glaube, diesmal halte ich dich lieber fest. Mom, bist du so weit?«
Seine Mutter kniete sich vor den Schacht und steckte den Kopf hinein. »Wir sollen … einfach springen?« Sie zog den Kopf wieder heraus und guckte bestürzt.
»Warte mal«, sagte Gregor. Er setzte Boots auf den Boden und stieg in den Nebel hinab. Jetzt hing er im Schacht und hielt sich nur mit einer Hand am Rand fest. »Jetzt lass Boots runter«, sagte er. Sein Vater nahm Boots und gab sie Gregor in den freien Arm. Sie klammerte sich an ihn wie ein kleiner Koalabär. »Los, Mom. Jetzt spring, halt dich an uns fest und dann fliegen wir alle zusammen runter.«
Seine Mutter biss sich auf die Lippe und schaute zurück zu Gregors Vater und Lizzie. Dann ließ sie sich mit den Füßen zuerst hinabgleiten. Sie umfasste Gregors Handgelenk, und er ließ das Gitter los.
Wenige Sekunden später hatte der wirbelnde Nebel dasLicht aus dem Wäschekeller ausgelöscht. Gregor legte die Finger um das Handgelenk seiner Mutter und spürte, wie ihr Puls raste. Er versuchte seine Angst vorm Fallen zu verdrängen, aber er konnte nicht viel dagegen tun. Auf seiner ersten Reise ins Unterland hatte er sich damit beruhigt, dass er sich sagte, es sei nur ein böser Traum.
Aber das begeisterte Quieken an seinem Ohr war nur zu real. »Gre-go! Mama! Boots! Ab geht’s, jippie!«
6. Kapitel
G regor! Wir stürzen in den Tod!«, schrie seine Mutter.
»Nein, Mom, keine Sorge«, sagte Gregor gelassener, als ihm zumute war. »He, Nike!«, rief er. »Können wir vielleicht auf deinem Rücken runterfliegen?«
Er wusste nicht, ob die Fledermaus ihn hörte oder ob sie überhaupt noch in der Nähe war, aber plötzlich saß er auf ihrem Rücken. Nike machte einen kleinen Schlenker, und schon saß seine Mutter hinter ihm.
»Natürlich dürft ihr auf mir fliegen«, sagte Nike. »Wie es euch behagt.« Ihre Stimme hatte etwas angenehm Heiteres, ungewöhnlich für eine Fledermaus. Allerdings sprach Gregor hauptsächlich mit Ares, und der war meistens ziemlich deprimiert – wofür er auch allen Grund hatte.
»Danke«, sagte Gregor. Er setzte Boots vor sich und schaltete eine Taschenlampe an. Im Lichtstrahl wurden die Nebelschwaden sichtbar. Es sah aus, als wären sie von einemwunderschönen, geisterhaften weißen Wald umgeben. Doch durch den Dunst sah Gregor die Wände der weiten Steinröhre, in der sie hinabflogen.
»Ich kann Federmaus fliegen«, sagte Boots und rieb die Hände an Nikes gestreiftem Hals. »Z wie Zebra. Z wie Zoo. Und wie Zucker!« Sie hatte in letzter Zeit einen Alphabet-Tick.
»Ich hatte nur
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