Gregor und der Spiegel der Wahrheit
hatte etwas Wichtiges zu erledigen.
»Ich lauf mal kurz zur Toilette«, sagte er zu seiner Mutter.
Als er um die Ecke war, fing er wirklich an zu laufen,aber nicht zur Toilette. Er rannte zur ersten Treppe, die nach unten führte, und nahm immer zwei Stufen auf einmal. Das Krankenhaus befand sich in einem der unteren Stockwerke. Dort musste Ares liegen.
Entweder kannte Gregor sich im Palast mittlerweile besser aus, oder es war reiner Zufall, dass er das Krankenhaus auf Anhieb fand. Die Ärzte wunderten sich, ihn zu sehen, und noch mehr wunderten sie sich über sein Anliegen.
»Ja«, sagte einer der Ärzte zweifelnd, »du kannst ihn sehen. Doch ihr werdet nicht miteinander sprechen können. Er liegt hinter dicken Glaswänden in Quarantäne.«
»Na gut, dann muss ich eben einfach winken oder so. Er soll nur wissen, dass ich da bin«, sagte Gregor. Wenn es stimmte, was Ripred gesagt hatte, und Ares nur durchhielt, weil er auf Gregor wartete, musste er ihm ein Zeichen geben.
Der Arzt führte ihn durch den langen Flur. »Hier. Er liegt in dem Gang zu deiner Rechten. Du weißt ja … er ist sehr krank.«
»Ich weiß«, sagte Gregor. »Ich mache bestimmt nichts, was ihn aufregen könnte oder so.« Er wusste, dass man sich im Krankenhaus ruhig verhalten musste. Bevor der Arzt es sich anders überlegen konnte, ging Gregor rasch den Gang entlang. Plötzlich war er ganz aufgeregt bei der Vorstellung, seinen Freund nach so vielen Monaten wiederzusehen. Ares sollte wissen, dass jetzt alles gut wurde. Gregor war da und sie würden ein Heilmittel finden. Sie würden wiederzusammen fliegen. Er ging schneller und musste den Drang unterdrücken, loszurennen. Mit Schwung bog er um die Ecke in einen anderen Gang. Auf der einen Seite war eine lange Glaswand.
Gregor schaute durch die Scheibe und sah seine Fledermaus.
Und da musste er sich übergeben.
7. Kapitel
G regor kauerte sich hin, als sich sein Abendessen über den Steinfußboden ergoss, gegen die Scheibe und auf seine Stiefel spritzte. Da überkam ihn auch schon eine neue Welle von Übelkeit und er erbrach sich wieder. Und wieder.
Jemand legte ihm eine kühle Hand in den Nacken. Eine weibliche Stimme sagte mitfühlend: »Komm, Überländer. Komm mit mir.« Sie führte ihn in einen Waschraum. Er krallte sich an den Rand einer Toilette. Ein ständiger Wasserstrom rann durch das Becken und spülte den Inhalt sofort weg. Einen Moment lang dachte Gregor, er wäre fertig, doch dann hatte er wieder Ares’ Bild vor Augen und musste sich erneut übergeben.
Ares hatte ausgestreckt auf dem Rücken gelegen, die Flügel seltsam verdreht. Große Teile seines glänzenden schwarzen Fells fehlten. Stattdessen waren an den Stellenmelonengroße lilafarbene Beulen. Mehrere Beulen waren aufgeplatzt, und aus den Öffnungen quollen Blut und Eiter heraus. Die weiß belegte Zunge hing ihm seitlich aus dem Maul. Der Kopf war nach hinten verdreht, und Ares atmete nur mühsam. Gregor hatte noch nie im Leben so etwas Beängstigendes gesehen.
Er gab sein Mittagessen und wahrscheinlich auch sein Frühstück von sich, und dann würgte er noch eine Weile, bis nichts mehr kam. Er war schweißgebadet und seine Beine fühlten sich an wie aus Gummi. Schließlich erhob er sich von der Toilette.
»Tut mir leid. Es tut mir so leid«, sagte er. Er schämte sich wegen seiner Reaktion auf Ares’ Anblick.
»Das muss dir nicht leidtun. Vielen geht es so, wenn sie zum ersten Mal ein Opfer der Pest sehen. Mein Mann, ein großartiger Soldat, wurde auf der Stelle ohnmächtig. Andere schauen es sich stoisch an und wachen des Nachts schreiend aus Albträumen auf. Es ist sehr beängstigend«, sagte die Frau.
»Ares hat mich doch nicht gesehen, oder?«, fragte Gregor. Es wäre schrecklich, wenn Ares gesehen hätte, dass Gregor sich bei seinem bloßen Anblick übergeben musste.
»Nein, er hat geschlafen. Quäle dich nicht mit dem Gedanken, du könntest ihn gekränkt haben«, sagte die Frau. »Hier, spül dir den Mund aus.« Sie drückte ihm einen Becher aus Stein in die Hand. Gregor gehorchte und spuckte das Wasser in die Toilette.
»Wenn ich ihn jetzt sehe, wird mir bestimmt nicht mehr schlecht. Es war nur der Schock«, sagte Gregor.
»Ich weiß«, sagte die Frau.
Gregor schaute auf und sah ihr zum ersten Mal ins Gesicht. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor, aber er war sich sicher, sie noch nie gesehen zu haben. »Arbeiten Sie hier als Ärztin?«
»Nein, ich besuche jemanden, genau wie du. Ich komme vom Quell.
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