Gregor und der Spiegel der Wahrheit
Ich heiße Susannah«, sagte die Frau.
»Ach, dann sind Sie Howards Mutter«, sagte Gregor. Deshalb kam sie ihm bekannt vor. Howard hatte Gregor auf der Suche nach der weißen Ratte begleitet. Seine Mutter war die Tochter von Solovet und Vikus. Und Luxas Tante. Hier schien jeder mit jedem verwandt zu sein.
»Ja, mein Sohn spricht sehr gut von dir«, sagte Susannah. »Er rechnet es dir hoch an, dass du ihm das Leben gerettet hast, als man ihn des Verrats anklagte.«
»Sie hätten ihm einen Orden oder so verleihen sollen. Er war auf der ganzen Reise unglaublich«, sagte Gregor.
»Danke«, sagte die Frau. Tränen traten ihr in die Augen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Gregor. Hatte er irgendwas Falsches gesagt?
»Soweit das unter den Umständen möglich ist«, sagte sie. Sie befeuchtete ein Tuch in einem Becken und wischte Gregor damit das Gesicht ab. Er wehrte sich nicht. Howard war eins von fünf Kindern. Seine Mutter hatte wahrscheinlich schon viele kotzen sehen.
»Wie geht es Howard? Ist er auch in Regalia?«, fragte Gregor.
Susannah starrte ihn einen Augenblick an. »Natürlich, das kannst du gar nicht wissen. Ja, er ist in Regalia. Er ist sogar nur ein paar Schritte von uns entfernt.«
»Er ist im Krankenhaus? Er ist doch nicht krank, oder?« Jetzt begann ihm die Wahrheit zu dämmern. »O nein, Sie wollen doch nicht etwa sagen … Er hat doch nicht …?«
»Die Pest, doch«, sagte Susannah. »Aber es ist erst kürzlich festgestellt worden. Auch bei dem Flieger Andromeda. Daher sind wir voller Hoffnung, dass du noch rechtzeitig kommst. Dass das Heilmittel gefunden wird und sie nicht …« Sie biss sich auf die Lippe.
Howard war also auch infiziert. Und auch Andromeda, die Fledermaus, die mit dem Soldaten Mareth verbunden war – er hatte die Reise zur weißen Ratte angeführt. Auf dieser Reise war Pandora, Howards Fledermaus, auf einer Insel bis auf die Knochen von einem Mückenschwarm abgenagt worden. Dann hatten die Mücken Ares angegriffen, und er war nur knapp mit dem Leben davongekommen. Howard hatte Ares’ Wunden verarztet. Andromeda hatte dicht an ihn gepresst geschlafen. Jetzt begriff Gregor, weshalb Vikus bei ihm, seiner Mutter und Boots als Erstes einen Bluttest hatte durchführen lassen. Boots hatte sich kaum in Ares’ Nähe aufgehalten, aber es war ein Wunder, dass Gregor nicht infiziert war.
»Ich kann gar nicht glauben, dass es mich nicht erwischt hat«, murmelte er.
»Vielleicht hast du als Überländer Abwehrkräfte, über die wir Unterländer nicht verfügen«, sagte Susannah.
»Vielleicht«, sagte Gregor. Seine Mutter achtete immer sehr darauf, dass sie den Impfplan einhielten. Aber er glaubte nicht, dass er gegen die Krankheit geimpft war, die Ares hatte.
Er nahm das feuchte Tuch und wischte seine Stiefel ab, so gut es ging. »Kann ich sie sehen? Alle drei? Wenn ich verspreche, mich nicht zu übergeben?«, fragte Gregor.
»Natürlich. Gewiss wird dein Anblick ihnen so guttun wie das Licht«, sagte Susannah.
Sie führte Gregor zurück zu dem Flur mit den Glaswänden. Jemand hatte das Erbrochene schon weggewischt, und der Boden und die Scheibe sahen aus, als wäre nichts passiert.
Gregor nahm sich zusammen und schaute seine Fledermaus erneut an. Diesmal empfand er nur Mitleid für seinen Freund, der unerträgliche Qualen leiden musste. »O Mann«, sagte er. »Wie lange hält er das wohl durch?«
»Wir wissen es nicht«, sagte Susannah. »Doch seine Kraft sucht ihresgleichen.«
Gregor nickte und fragte sich, ob das überhaupt gut war. Bedeutete es vielleicht nur, dass Ares länger leiden musste als andere, bevor er starb?
Ein Schauer lief über einen von Ares’ Flügeln und er schlug die Augen auf. Erst war sein Blick verschwommen, doch als er Gregor sah, zeigte er eine Regung. Gregor nahmalle Kraft zusammen und schenkte Ares ein, wie er hoffte, aufmunterndes Lächeln. Er legte die rechte Hand an die Scheibe und sah, wie Ares den linken Fuß ein wenig anhob. Mehr konnten sie nicht tun, um anzudeuten, dass Hand und Fuß sich fassten – das Zeichen ihrer Verbundenheit.
Ares fielen die Augen wieder zu und Susannah legte Gregor eine Hand auf den Arm. »Howard und Andromeda sind bei Weitem nicht so krank. Komm mit«, sagte sie.
Gregor folgte ihr den Flur entlang zu einem weiteren verglasten Raum. Howard und Andromeda saßen mit einem Schachbrett zwischen sich auf dem Boden. Bei Howard war nur eine walnussgroße lilafarbene Beule am Hals zu sehen. Andromedas goldschwarz
Weitere Kostenlose Bücher