Gregor und die graue Prophezeiung
nicht«, murmelte er. Das Handtuch war weich und saugte das Wasser besser auf als die dünnen, abgenutzten Handtücher, die sie zu Hause hatten.
Er ging wieder in den Umkleideraum und trocknete sich die Haare. Dann stellte er fest, dass seine Kleider verschwunden waren. Dort, wo sie gelegen hatten, fand ereinen ordentlichen Stapel rauchblauer Kleider. Ein Hemd, eine Hose und etwas, das so aussah wie Unterwäsche. Die Kleider waren viel feiner als die Handtücher – seidig floss der Stoff durch seine Finger. Was das wohl für ein Material ist?, fragte er sich, als er das Hemd überzog.
Er schlüpfte in ein Paar Sandalen aus geflochtenem Stroh und ging aus der Umkleide. Mareth und Perdita erwarteten ihn.
»Wo sind meine Sachen geblieben?«, fragte Gregor.
»Wir haben sie verbrannt«, sagte Mareth zaghaft. Gregor spürte, dass Mareth Angst hatte, er könnte wütend werden.
»Es wäre höchst gefährlich, sie zu behalten«, erklärte Perdita. »Die Asche ist ohne Geruch.«
Gregor zuckte die Achseln, um zu zeigen, dass es ihm nichts ausmachte. »Das geht schon in Ordnung«, sagte er. »Die hier passen gut.«
Mareth und Perdita schauten ihn dankbar an. »Wenn Ihr ein paar Tage bei uns gegessen habt, werdet Ihr nicht mehr so stark riechen«, sagte Perdita aufmunternd.
»Darauf freu ich mich schon«, sagte Gregor trocken. Diese Unterländer waren ja wirklich besessen von seinem Geruch.
Aus dem linken Teil des Bads kam Dulcet mit einer quietschsauberen Boots. Sie trug ein weiches rosafarbenes Hemdchen und eine Windel aus dem gleichen Material wie Gregors Handtuch. Sie streckte ein Bein aus undzeigte stolz auf die neue Sandale an ihrem Fuß. »San-da«, sagte sie zu Gregor.
Er streckte einen Fuß vor und zeigte ihr seine Schuhe. »Ich auch«, sagte er. Bestimmt waren Boots’ Kleider ebenfalls verbrannt worden. Er versuchte sich an die Sachen zu erinnern für den Fall, dass er seiner Mutter erklären musste, wo sie geblieben waren. Eine schmutzige Windel, das war kein Verlust. Ein Paar abgewetzte lila Sandalen, aus denen sie sowieso bald herausgewachsen wäre. Ein fleckiges T-Shirt. Das würde wohl keine großen Probleme geben.
Gregor wusste noch nicht genau, was er seiner Mutter vom Unterland erzählen wollte. Die Wahrheit würde sie zu Tode erschrecken. Er würde sich etwas ausdenken, sobald sie wieder im Wäschekeller waren. Je eher das der Fall wäre, desto einfacher könnte die Geschichte sein.
Boots streckte die Arme aus und Gregor nahm sie und drückte die Nase in ihre feuchten Locken. Sie roch frisch und ein bisschen nach Ozean.
»Sie ist gut gewachsen«, sagte Dulcet. »Ihr habt sicher müde Arme.« Sie verschwand wieder in der Umkleide und kam mit einer Art Rucksack zurück. Er ließ sich mit Riemen auf dem Rücken befestigen, und Boots konnte darin sitzen und ihm über die Schulter gucken. In New York hatte Gregor schon Leute mit speziellen Tragegestellen für Kleinkinder gesehen, aber für so etwas hatte seine Familie kein Geld.
»Danke«, sagte er leichthin, während er innerlich jubelte. Mit Boots im Tragegestell könnte er wesentlich leichter fliehen, als wenn er sie auf dem Arm tragen müsste.
Dulcet führte sie erst mehrere Treppen hinauf und dann durch ein Labyrinth von Fluren. Schließlich landeten sie in einem langen Raum, der auf einen Balkon führte.
»Diesen Raum nennen wir die Hohe Halle«, sagte Dulcet.
»Da habt ihr wohl das Dach vergessen«, sagte Gregor. Während die Wände mit größter Sorgfalt verziert waren, war über ihnen nichts als die schwarze Höhle.
Dulcet lachte. »O nein, das ist Absicht. Hier finden viele Empfänge statt, und es können viele Fledermäuse gleichzeitig herkommen.« Gregor stellte sich vor, was für einen Engpass es geben würde, wenn hundert Fledermäuse zur unteren Tür hereinkommen wollten. Da war eine größere Landebahn von Vorteil.
Vikus erwartete sie zusammen mit einer älteren Frau vorm Balkon. Sie musste etwa so alt wie seine Großmutter sein, aber während seine Großmutter krumm war und vor Arthritis kaum laufen konnte, hielt sich diese Frau sehr gerade und machte einen kräftigen Eindruck.
»Gregor und Boots die Überländer, meine Frau Solovet«, sagte Vikus.
»Hallo«, sagte Gregor. »Freut mich, Sie kennen zu lernen.«
Die Frau kam auf ihn zu und streckte ihm beide Hände entgegen. Diese Geste überraschte ihn. Seit er hier gelandet war, hatte niemand Anstalten gemacht, ihn zu berühren.
»Willkommen, Gregor, willkommen, Boots«,
Weitere Kostenlose Bücher