Gregor und die graue Prophezeiung
Tüpfelmusselin habe ich mit elf zur Abschlussfeier meiner Cousine Lucy getragen, das zitronengelbe Stück war ein Sonntagskleid, und das Weiße ist ein Stück von meinem Brautkleid, so wahr ich hier liege.«
Jetzt war allerdings keiner ihrer lichteren Momente. »Simon«, sagte sie, und als sie ihn sah, spiegelte sich Erleichterung auf ihrem Gesicht. »Ich dachte schon, du hättest deinen Henkelmann vergessen. Pflügen macht hungrig.«
Seine Großmutter war auf einer Farm in Virginia aufgewachsen und nach New York gekommen, als sie seinenGroßvater geheiratet hatte. Sie war hier nie richtig heimisch geworden. Manchmal war Gregor insgeheim froh darüber, dass sie in Gedanken zu ihrer Farm zurückkehren konnte. Und ein bisschen neidisch. Es war kein Spaß, die ganze Zeit in der Wohnung rumzuhängen. Um diese Zeit kam der Bus wahrscheinlich am Ferienlager an, und die anderen würden …
»Ge-go!«, jammerte ein Stimmchen. Ein Lockenkopf guckte aus dem Kinderbett heraus. »Ich raus!« Boots nahm das durchweichte Schwanzende eines Plüschhundes in den Mund und streckte beide Arme nach Gregor aus. Gregor hob seine Schwester hoch in die Luft und prustete laut auf ihren Bauch. Sie kicherte und der Hund fiel herunter. Gregor setzte sie ab, um ihn wieder aufzuheben.
»Vergiss deinen Hut nicht!«, sagte Oma, die immer noch irgendwo in Virginia war.
Gregor nahm ihre Hand, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Möchtest du was Kaltes trinken, Oma? Wie wär’s mit einer Cola?«
Sie lachte. »Cola? Hab ich etwa Geburtstag?«
Was sollte man darauf antworten?
Gregor drückte ihre Hand und hob Boots hoch. »Bin gleich wieder da«, sagte er laut.
Seine Großmutter lachte immer noch in sich hinein. »Eine Cola!«, sagte sie und wischte sich die Augen.
In der Küche goss Gregor eiskalte Cola in ein Glas und machte Boots ein Milchfläschchen.
»Kat«, sagte sie strahlend und drückte das Fläschchen ans Gesicht.
»Ja, schön kalt, Boots«, sagte Gregor.
Ein Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenfahren. Der Spion funktionierte schon seit gut vierzig Jahren nicht mehr. »Wer ist da?«, rief er durch die Tür.
»Ich bin’s, Mrs Cormaci, Schatz. Ich hab deiner Mutter versprochen, ab vier auf deine Oma aufzupassen!«
Da fiel Gregor der Wäscheberg ein, um den er sich kümmern sollte. Immerhin würde er dadurch mal rauskommen.
Als er die Tür öffnete, sah er eine Mrs Cormaci, die von der Hitze völlig erschöpft war. »Hallo! Ist es nicht grauenhaft? Ich kann diese Hitze einfach nicht ausstehen!« Sie eilte in die Wohnung und tupfte sich das Gesicht mit einem alten Taschentuch ab. »Oh, du bist ein Schatz, ist die für mich?«, sagte sie, und ehe er etwas erwidern konnte, hatte sie die Cola schon hinuntergestürzt wie ein Verdurstender in der Wüste.
»Klar«, murmelte Gregor und ging in die Küche, um ein neues Glas einzugießen. Er hatte eigentlich nichts gegen Mrs Cormaci, und heute war er sogar fast erleichtert, sie zu sehen.
Na super, der erste Tag und ich freue mich schon auf einen Ausflug in den Wäschekeller, dachte Gregor. Im September führe ich wahrscheinlich einen Freudentanz auf, wenn die Telefonrechnung kommt.
Mrs Cormaci hielt ihm das Glas hin, damit er ihr Cola nachschenken konnte. »Und wann darf ich dir die Tarotkarten legen, junger Mann?«, fragte sie. »Du weißt ja, dass ich die Gabe habe.« Mrs Cormaci klebte Zettel an Briefkästen mit dem Angebot, für zehn Dollar pro Sitzung Tarotkarten zu legen. »Für dich ist es umsonst«, sagte sie Gregor jedes Mal. Er hatte das Angebot noch nie angenommen, weil er befürchtete, dass Mrs Cormaci ihm am Ende viel mehr Fragen stellen würde als er ihr. Fragen, die er nicht beantworten konnte. Fragen über seinen Vater.
Er murmelte etwas von der Wäsche und flitzte davon, um sie zu holen. Wie er Mrs Cormaci kannte, hatte sie schon einen Satz Tarotkarten in der Tasche.
Im Wäschekeller sortierte Gregor die Wäsche, so gut er konnte, nach Farben. Weiße Wäsche, dunkle Wäsche, Buntwäsche … Was sollte er mit Boots’ schwarzweiß gestreiften Shorts machen? Er warf sie in die dunkle Wäsche und hatte das sichere Gefühl, die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Die meisten Sachen waren sowieso irgendwie gräulich – nicht weil er sie falsch gewaschen hatte, sondern weil sie so alt waren. Gregors Shorts waren allesamt an den Knien abgeschnittene Winterhosen, und nur ein paar der T-Shirts vom letzten Jahr passten noch. Aber wenn er sowieso den ganzen
Weitere Kostenlose Bücher