Gregor und die graue Prophezeiung
sagte sie mit leiser, warmer Stimme. »Es ist eine Ehre, euch bei uns zu haben.«
»Danke«, murmelte Gregor, der etwas verwirrt war, weil sie seinen Gefangenenstatus ins Wanken brachte. Sie gab ihm das Gefühl, jemand Besonderes zu sein.
»Hallo, du!«, sagte Boots, und Solovet tätschelte ihr die Wange.
»Vikus sagt, du hast es eilig, wieder nach Hause zu kommen. Es schmerzt mich, dass wir euch nicht sofort helfen können, aber es wäre undenkbar, euch heute schon wieder hinaufzulassen«, sagte sie. »Die ganze Unterwelt ist der Kunde von eurer Ankunft wegen in Aufruhr.«
Wahrscheinlich wollen die uns alle anglotzen, als ob wir Missgeburten wären oder so, dachte Gregor. Na, da müssen sie sich aber ranhalten. Er sagte: »Dann krieg ich hier unten wenigstens noch was zu sehen.«
Vikus winkte ihn zu der niedrigen Mauer hinüber, die den Balkon umgab. »Komm her, hier gibt es viel zu besichtigen«, sagte er.
Gregor stellte sich zu Vikus und hatte sofort ein schwummeriges Gefühl im Bauch. Unwillkürlich trat er ein paar Schritte zurück. Es war, als würde der Balkonnicht zum Gebäude gehören. Nur der Boden trennte Gregor von dem Schwindel erregenden Abgrund.
»Fürchte dich nicht, er ist gut gebaut«, sagte Vikus.
Gregor nickte, doch er wagte sich nicht mehr vor. Wenn das Ding zusammenkrachte, wollte er sich rechtzeitig in die Hohe Halle retten können. »Ich sehe von hier aus ganz gut«, sagte er. Und das stimmte.
Von oben sah Regalia noch beeindruckender aus. Von unten hatte er nicht gesehen, dass die Anlage der Straßen, die mit verschiedenfarbigem Stein gepflastert waren, einem komplexen geometrischen Muster folgte, das die Stadt wie ein gigantisches Mosaik erscheinen ließ. Er hatte auch nicht gesehen, wie groß die Stadt war. Sie erstreckte sich in alle Richtungen über mehrere Kilometer.
»Wie viele Leute leben dort?«, fragte Gregor.
»Wir sind etwa dreitausend«, sagte Vikus. »Bei guter Ernte noch mehr.«
Dreitausend. Gregor versuchte sich vorzustellen, wie viele Menschen das waren. Auf seiner Schule waren ungefähr sechshundert Schüler, also fünfmal so viele.
»Und was treibt ihr hier so?«, fragte Gregor.
Vikus lachte. »Es wundert mich, dass du erst jetzt danach fragst. Es ist eine wunderbare Geschichte.« Vikus holte tief Luft, bevor er anfing zu erzählen. »Vor vielen Jahren lebten einst …«
»Vikus«, unterbrach Solovet ihn. »Vielleicht solltest du die Geschichte besser beim Abendessen erzählen.«
Gregor dankte ihr im Stillen. Sein Magen knurrte, und er hatte das Gefühl, dass Vikus keine Einzelheit auslassen würde.
Der Speiseraum war nicht weit von der Hohen Halle entfernt. Der Tisch war für acht Personen gedeckt. Gregor hoffte, Dulcet würde beim Essen dabei sein, doch nachdem sie Boots in eine Art Hochsitz gesetzt hatte, trat sie einige Schritte vom Tisch zurück und blieb dort stehen. Gregor war nicht wohl bei der Vorstellung, zu essen, während sie da stand, aber er wollte sie nicht in Verlegenheit bringen und schwieg.
Weder Vikus noch Solovet setzten sich, also beschloss auch Gregor zu warten. Bald darauf kam Luxa hereingerauscht. Ihr Kleid war viel eleganter als die Sachen, die sie im Stadion angehabt hatte. Das glänzende Haar, das sie jetzt offen trug, fiel ihr wie flüssiges Silber bis auf die Taille. Sie war in Begleitung eines Jungen, den Gregor auf ungefähr sechzehn schätzte. Er lachte über etwas, das Luxa gerade gesagt hatte. Gregor erkannte ihn aus dem Stadion wieder. Es war der Reiter, der sich großspurig auf seine Fledermaus gelegt hatte, als sie um Gregor herumgeschwirrt waren.
Noch so ein Angeber, dachte Gregor. Aber der Junge sah ihn so freundlich an, dass Gregor beschloss, nicht voreilig zu urteilen. Luxa war nervig, aber die meisten anderen Unterländer waren in Ordnung.
»Mein Cousin Henry«, sagte Luxa kurz angebunden,und Gregor hätte am liebsten gelacht. Unter all diesen merkwürdigen Namen gab es hier einen Henry.
Henry machte eine tiefe Verbeugung vor Gregor und richtete sich grinsend wieder auf. »Willkommen, Überländer«, sagte er. Dann fasste er Gregor am Arm und flüsterte ihm in übertriebenem Ton ins Ohr: »Hüte dich vor dem Fisch, Luxa plant dich zu vergiften!«
Vikus und Solovet lachten, und sogar Dulcet lächelte. Es war ein Witz. Diese Leute hatten tatsächlich Sinn für Humor.
»Hüte du dich vor deinem Fisch, Henry«, gab Luxa zurück. »Ich gab Befehl, alle Schurken zu vergiften, doch dabei vergaß ich, dass auch du mit
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