Greife nie in ein fallendes Messer
Unangenehme Überraschungen können dadurch vermieden werden.
Kurz vor 14 Uhr laufen die ersten Zahlen zum Geschäftsjahr 1997/98 über die Bildschirme der Agenturen. Zunächst nur Überschriften. Die ausführlichen Erläuterungen sollen Minuten später nachgeliefert werden. Doch schon die nackten Schlagzeilen lassen den Siemens-Kurs explodieren. Ich verstehe zunächst gar nichts. Alles scheint doch so schlimm zu sein, wie wir es befürchtet haben.
Nur beim Umsatz und bei den Auftragseingängen hat der Weltkonzern mehr oder weniger seine Ziele erreicht. Die Erlöse haben gegenüber dem vorherigen Geschäftsjahr 1996/97 um 10 Prozent auf 117,8 Milliarden D-Mark zulegen können, und die Auftragseingänge liegen mit 119,6 Milliarden D-Mark gerade mal 6 Prozent höher. Der Gewinn aber ist nach Steuern und ohne außerordentliche Erträge und Aufwendungen nur um magere 2 Prozent auf 2,66 Milliarden D-Mark gestiegen. Der Konzern habe im abgelaufenen Geschäftsjahr mehrere Hagelschläge verkraften müssen, zitiert die Nachrichtenagentur Reuters wenig später in einem ausführlichen Bericht den Siemens-Chef von Pierer.
Vor allem das asiatische Dauertiefdruckgebiet hat dem Haus zu schaffen gemacht. Die Bestellungen aus Asien seien um 25 Prozent zurückgegangen, der Halbleiterbereich mit den modernsten, internationalen Produktionsstätten, vor kurzem noch als Milliardeninvestition in eine vielversprechende Zukunft gefeiert, sei dem weltweiten Preiskampf im Markt für Speicherchips zum Opfer gefallen, die Verkehrstechnik sei noch tiefer als vorher in die roten Zahlen gefahren |145| und sei im Augenblick ein Sanierungsfall. Nur wenige Unternehmensbereiche hätten die kalkulierten Kapitalkosten von 8,5 Prozent erreicht. Um die Aktionäre aber doch noch bei guter Laune zu halten, wird man der Hauptversammlung für jede 5-Mark-Aktie eine unveränderte Dividende von 1,50 D-Mark vorschlagen. Das ergibt ein 892 Millionen Mark teures Trostpflaster, das den Jahresgewinn nahezu aufzehren wird. Die guten Ergebnisse im Bereich Finanzanlagen machen es möglich. Das Haus Siemens also doch eine Bank mit eigener Elektroabteilung!
Auf den ersten Blick ist das eine mehr als dürftige Bilanz, und trotzdem schießt der Kurs der Siemens-Aktie nach oben. Nach der Veröffentlichung all dieser Schrecklichkeiten erreicht er in wenigen Minuten die Marke von 115 – immerhin ein Tagesplus von fast 12 Prozent.
Kursziele von 130 bis 150 werden auf dem Parkett herumgereicht, für die nächsten 18 Monate malen einige Analysten sogar Kurse bis zu 180 an die Wand, 40 D-Mark über den historischen Höchstkursen im Juli. Die Siemens-Aktie werde in nächster Zukunft stärker steigen als der gesamte Aktienmarkt, verkünden sie.
»Warum diese Begeisterung nach diesen dürftigen oder schlechten Zahlen?«, frage ich etwas verwirrt einen Börsianer. Die Erklärung klingt durchaus plausibel. Angesichts dieser Zahlen bleibe der Konzernleitung nun nichts anderes mehr übrig, als die im Sommer versprochene Umstrukturierung des gesamten Konzerns beschleunigt voranzutreiben. Der weltweit tätige Siemens-Konzern müsse jetzt endlich fit gemacht werden für den internationalen Wettbewerb.
In der Tat hat Konzernchef von Pierer in München auf der Pressekonferenz den Journalisten offenbar sensationelle Einzelheiten über notwendige Umbaumaßnahmen in die Schreibblöcke diktiert. Bei Siemens ist Großreinemachen angesagt. Für die Sanierung und Neuordnung des Konzerns seien bereits mehr als eine Milliarde D-Mark investiert worden, weitere 4 Milliarden würden folgen. Einen Konzern auf die Anforderungen des harten internationalen Wettbewerbs vorzubereiten, kostet halt Geld. Aber von Pierer ist offenbar wild entschlossen, jetzt diesen überlebenswichtigen Konzernumbau durchzusetzen. Alles, was die angepeilten Kapitalkosten von durchschnittlich |146| 8,5 Prozent nicht erwirtschaftet, steht zur Disposition. Nur bei den drei Bereichen Osram, Automatisierungs- und Antriebstechnik und Passive Bauelemente und Röhren besteht in dieser Hinsicht kein Handlungsbedarf. Aber ganz oben auf der Tagesordnung steht der angeschlagene Halbleiterbereich.
Das nagelneue Halbleiterwerk im britischen North Tyneside war schon im Juli als erstes Opfer des ruinösen Preiswettbewerbs im Chipbereich über die Klippe gestoßen worden. Die Kosten der Schließung wurden auf ungefähr 1,6 Milliarden D-Mark beziffert. Der Löwenanteil wird wohl an Abfindungen für die entlassenen Mitarbeiter
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