Greifenmagier 1 - Herr der Winde
... Das hätte er vielleicht eingeräumt.
Bertaud wusste noch, wie großartig und gütig Iaor ihm damals erschien, als er selbst zum ersten Mal an den Hof kam, nachdem er das riesige, drangvolle Haus des eigenen Vaters im Delta verlassen hatte, in dem es immer zu voll gewesen war und er doch nie das Gefühl gehabt hatte, Gesellschaft zu haben. Zehn war er damals gewesen, Iaor mehr als doppelt so alt. Iaor erblickte jedoch etwas in dem ungeschickten, stillen Bertaud von damals und machte ihn zu seinem Pagen, hielt ihn weit über den Zeitpunkt hinaus bei Hofe fest, an dem er nach Hause zu seinem Vater hätte zurückkehren sollen. Bertaud bemühte sich, die verzweifelte Angst vor einer Rückkehr nach Hause zu verbergen, aber Iaor wusste natürlich trotzdem davon. Also sorgte er dafür, dass Bertaud acht Jahre lang an seiner Seite blieb, bis Bertauds Vater bei einem Wutanfall während einer wüsten Trinkerei plötzlich starb. Daraufhin erbte Bertaud den väterlichen Titel und die Herrschaft über das weitläufige, fruchtbare Land im Delta, obwohl er noch kaum richtig erwachsen war.
Als Iaors Vater nur wenige Jahre später ebenfalls vom Schlag dahingerafft wurde, war es erneut Bertaud, den Iaor Safiad an seine Seite rief. Bertaud übertrug nur zu gern einem seiner vielen Onkel die Aufgabe, die eigenen Ländereien zu verwalten, und kehrte an Iaors Hof zurück. Fürst des Deltas war Bertaud, aber er hasste das Delta; er hatte dort hundert Vettern und Cousinen und empfand für niemanden von ihnen irgendetwas. Alles, was seine Wertschätzung genoss, fand man hier bei Hofe, und mehr als alles andere waren das die Freundschaft und das Vertrauen des Königs. Iaor verabscheute allerdings Speichelleckerei, und Bertaud hätte nie riskiert, einen solchen Eindruck zu erwecken. Jetzt wartete er einen Augenblick lang, bis er sicher war, dass seine Stimme nur das verriet, was er auch zeigen wollte. Dann sagte er in einem Tonfall, der Iaors trockenen Spott widerspiegelte: »Wie könnte ich mir etwas anderes wünschen als das, was du wünschst, mein König?«
Iaor lachte erneut. »Natürlich!«, sagte er. »Und was ich mir wünsche, ist, die letzten Tage des Frühlings zu genießen und vorerst über nichts Verzwickteres als Lilien nachzudenken.« Der König machte den Rücken gerade, streckte sich ausgiebig und drehte sich dann um. Anschließend stand er lange nur da und betrachtete mit fast greifbarer Zufriedenheit die Gärten und sein Haus.
Das Winterhaus des Königs von Farabiand schmiegte sich perfekt in die Landschaft: Es war an einer Stelle erbaut worden, wo sich drei Berge vereinigten und die kleinen Wellen des Niambesees vor dem Wind vom felsigen Ufer flüchteten. Das niedrige, weitläufige Haus, errichtet aus heimischem Gestein, zeichnete sich vor dem Hintergrund des wintergrauen Sees ab und schien ein Teil der Landschaft zu sein. Wie die Berge hätte es vor langer Zeit dort einfach emporgewachsen sein können. Die casmantischen Könige erbauten vielleicht prachtvolle Paläste, um sowohl das eigene Volk als auch Reisende mit ihrer Erhabenheit und Kunst als Baumeister zu beeindrucken; die Linulariner Könige errichteten vielleicht grazile Türme und luftige Balkone unter dem Himmel. Doch Iaor Safiad war ein echter König Farabiands, und die Könige Farabiands wünschten sich ein warmes und behagliches Haus - eines mit kleinen Zimmern, die sich jeweils mit einem einzigen Kamin heizen ließen, mit dicken Wänden und weichen Wandbehängen, die während des langen Winters die Wärme festhielten.
Die Stadt Tihannad war rings um das Winterhaus des Königs emporgewachsen. Oder vielleicht hatte man das Haus des Königs auch wegen der Stadt am See errichtet; in jüngerer Vergangenheit wusste das niemand mehr ganz genau. Die Stadt ähnelte jedoch des Königs Haus, denn sie war niedrig, schlicht und behaglich. Die Häuser waren gemütlich aus Stein hochgezogen, die Straßen mit noch mehr Steinen gepflastert und mit Rinnsteinen versehen, um die Schneeschmelze des Frühlings in den Fluss zu leiten, der sich an der Stadtmauer entlangschlängelte. Diese Mauer zog sich um die ganze Stadt: ein hoher, dicker Schutzwall. Allerdings erinnerte sich kein lebender Mensch an eine Zeit, in der die Mauer einen Feind hätte fernhalten müssen. Die Stadttore standen Tag und Nacht offen, und die Mauer selbst stellte für Reisende keinerlei ernst zu nehmendes Hindernis dar, ungeachtet des ursprünglichen Zweckes, für den man sie errichtet hatte.
Im
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