Greifenmagier 1 - Herr der Winde
Menschen bedroht? Kes wollte Kairaithin danach fragen, tat es aber nicht. Sie suchte sich nur den Weg zwischen kahlen Steinen hindurch und ging dabei dem Greifenmagier nach. Am Himmel folgte die Sonne ihrer sengenden Bahn. Die Greifen kümmerten sich nicht um ihren Magier, aber sie wandten die Köpfe, um Kes anzusehen, wenn sie vorbeiging. Sie blickten dabei aus den wilden, heißen, undeutbaren Augen von Wüstenadlern. Diese Geschöpfe waren schön, aber Kes brachte nicht den Mut auf, ihre Blicke zu erwidern.
Der verwundete Greif, zu dem Kairaithin sie führte, war eine schmale dunkle Kreatur, das Gefieder von sattem Dunkelbraun, nur leicht von Gold durchwirkt. Im Löwenbauch klaffte ein langer, entsetzlicher Schnitt, der den Greifen beinahe ausgeweidet hätte. Um ihn herum sah Kes Granate im Sand verstreut, manche davon waren beunruhigend groß. Die Kreatur lag halb in der Sonne, halb im Schatten eines gewaltigen roten Felsvorsprungs. Sie hechelte mit geöffnetem Schnabel; die vor Schmerz und erduldetem Leid glasigen Augen waren halb geschlossen. Sie drehte den Kopf, als Kairaithin neben ihr auftauchte, und blickte erst den Magier und dann Kes an. Goldbraune Augen begegneten den ihren. Dieser Greif wirkte jedoch nicht wild, sondern mehr als alles andere einfach nur geduldig.
»Opailikiita Sehanaka Kiistaike«, stellte Kairaithin ihn vor.
Etwas schwang dabei in seinem Ton mit, etwas Kraftvolles, aber es war nichts, das Kes hätte deuten können. Als sie vorsichtig an dem Magier vorbeiging, um die Hand auf die Löwenflanke des Greifen zu legen, drehte dieser einfach nur den Kopf weg. Sie wusste nicht, ob er sich ihrer Hand fügte oder sich einfach weigerte, sie zur Kenntnis zu nehmen. Oder ob er etwas anderes empfand, das sie noch weniger verstand. Sie war nicht völlig überzeugt, ihn heilen zu können. Sie begriff gar nicht, wie sie es geschafft hatte, den ersten Greifen zu heilen. Doch sie wollte das Geschöpf, das hier vor ihr lag, unbedingt heilen. Der Gedanke an die grausame Wunde in seinem Bauch war für sie wie der Gedanke an die gebrochenen Beine eines Fohlens.
Es fiel ihr erstaunlich schwer, sich zu erinnern, dass der Greif gefährlich war. Dass er womöglich versuchte, sie umzubringen. Dass sie ihn nicht verstand. Oder sie nicht verstand, dachte Kes. Sie hatte nicht besonders darauf geachtet, aber sie wusste, dass dies ein weiblicher Greif war. Und sicherlich auch jung. Ja. Die schmale Hinterpartie verriet, dass es eine junge Greifin war. Kes fragte sich, ob die Selbstbeherrschung, die diese Kreatur zeigte, bei Greifen als weiblich galt. Oder war sie einfach die individuelle Eigenschaft dieses Greifen, so etwas wie Jerreids Freundlichkeit oder Nellis' praktische Ader oder Tesmes etwas aufgeregte Nettigkeit? Kes erlaubte sich jedoch nicht, länger als einen Augenblick lang an Tesme zu denken. Opailikiita. Opailikiita Sehanaka Kiistaike. Dunkel und schmal und schnell und anmutig. Opailikiita. Ja.
Kes schloss die Augen, öffnete sie wieder und blickte ins Sonnenlicht. Der Name der Greifin pulsierte durch Kes' Bewusstsein. In ihrem Blut. Kes starrte in die dunklen, geduldigen Augen - ihre eigenen waren fast blind vom grellen Sonnenlicht - und tastete nach der Erinnerung an das, was sie getan hatte, um den Greifenkönig zu heilen. Während der wenigen Schritte, die sie zu Opailikiita geführt hatten, schien sie den Kniff vergessen zu haben. Sie kam sich beinahe wie ein Kind vor, das laufen lernte, das alle paar Schritte das Gleichgewicht verlor und hinfiel. Natürlich konnte sich ein Kind an die Hand des Vaters klammern. Woran aber konnte sich Kes klammern?
Sie dachte an Feuer und brennende Pfeile und streckte die Hand blind nach Kairaithin aus. Seine langen, hageren Finger schlossen sich um ihre, und erneut strömte ihr diese schon halb vertraute, nicht ganz schmerzhafte Wärme den Arm hinauf. Ihr Herz blühte auf von Feuer.
Keine Willensanstrengung war erforderlich, um sich die Greifin so vorzustellen, wie sie sein sollte, statt so, wie es ihr derzeit erging. Opailikiita Sehanaka Kiistaike. Schmal und jung und schön, ohne Schädigung durch Bosheit oder Verletzung. Schwerer fiel es Kes schon, Licht und Wärme in den Händen zu sammeln - so, als hielte ihr Verstand dieses Mal für unmöglich, was sie tat, und als käme diese Erkenntnis dem Herzen in die Quere.
Kes blickte blinzelnd durch die schillernde Hitze, schloss die Augen und hob eine doppelte Handvoll Sand und Edelsteine auf. Die Sandkörner
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