Greifenmagier 1 - Herr der Winde
Winter kleideten sich die Menschen Tihannads in warme Mäntel von mohnroter oder enzianblauer Farbe, hängten Glöckchen und Schleifen an das Geschirr der Pferde und zogen zum Eislaufen auf den Niambesee. Sie entzündeten lodernde Feuer auf dem Marktplatz der Stadt, um die sich während der langen Abende junge Männer und Frauen zum Tanz versammelten. Sie schnitten Blöcke aus dem dicken Eis des Sees und brachten sie für den Sommer in tiefen Kellern unter, und sie schnitzten dann noch weitere Blöcke zu Blumen und Schwänen und anderen fantasievollen Formen.
Obwohl die Menschen Tihannads den Winter genossen, liebten sie doch den Frühling. Sobald der Westwind wärmer wurde und der Schnee schmolz, stellte jedes Haus in Tihannad Schachteln, Töpfe und Fässer mit Blumen ins Freie - blaue und weiße Stiefmütterchen, rosa Kimeen mit riesigen gefransten Blüten und zierlichem blau-grünem Laub, weiße Silberlichter mit ihren Trompetenblüten und weiche safrangelbe und rosa Frühlingslilien. Alle Mädchen trugen Blumen im Haar, und Kinder fanden schier jede Ausrede, um Blumen in die Mähnen der Pferde ihrer Familie zu flechten.
Das Haus des Königs schloss sich von der allgemeinen Freude am Frühling nicht aus, denn auch Iaor genoss die wärmeren Tage und die leuchtenden Blumen. Der König von Farabiand war ein Safiad; sein voller Name lautete Iaor Daveien Behanad Safiad. Die Safiads regierten Farabiand seit dreihundert Jahren und taten dies im Großen und Ganzen gut. Iaor Safiad hatte die Willensstärke des Vaters ebenso wie die Selbstbeherrschung der Mutter geerbt, und diese Kombination bereitete manchen seiner Gegenspieler einiges Unbehagen. Farabiand jedenfalls war an die Herrschaft der Safiads gewöhnt, und selbst die offensten Kritiker Iaors bei Hofe erwarteten im Grunde nicht, seine Herrschaft allzu sehr infrage stellen zu können.
Iaor benötigte sowohl Vertrauen als auch Entschlossenheit, denn er hatte in jeder Jahreszeit über einiges mehr nachzudenken als Lilien. Wie schon sein Vater und Großvater wahrte er einen zerbrechlichen Frieden mit Farabiands Nachbarländern. Zu ihnen gehörte das im Westen gelegene Linularinum - das kultivierte, gebieterische, überhebliche Linularinum, wo man gern glaubte, die Bauern Farabiands würden eines Tages die natürliche Überlegenheit des westlichen Nachbarn anerkennen.
Linularinum war nicht unbedingt kriegerisch. Aber vor gerade mal hundert Jahren hatte sich der selbstherrliche und anmaßende König Lherriadd Kohorrian mit dem Fürsten des Deltas überworfen und die Lehnstreue dieser Region verspielt, die damals zu den wertvolleren Besitzungen Linularinums an der Küste gehörte. Und alle Welt wusste außerdem, dass Linularinums derzeitiger König Mariddeier Kohorrian nicht unbedingt danach fragen würde, ob das Delta erneut die Zugehörigkeit zu wechseln wünschte, falls sich irgendwann einmal ein Weg eröffnete, die Frage mit Gewalt zu lösen. Nein, wenn der alte Fuchs von Linularinum jemals die Gelegenheit wittern sollte, nach dem Delta zu greifen, würde er es als eine Frage des Stolzes betrachten, die Hand auszustrecken und es sich zu holen.
In mancher Hinsicht jedoch bildete Casmantium, das trockene Land hinter den Bergen im Osten, die größere Gefahr. Vor kaum achtzig Jahren hatte es das kleine Land Meridanium im Nordosten erobert; dort herrschte heute ein casmantischer Gouverneur, und die Menschen führten Steuern an den casmantischen König in Breidechboda ab. Vom Standpunkt Farabiands aus war noch schwerwiegender, dass Meridanium nicht nur erobert, sondern regelrecht absorbiert worden war. Da es unter casmantischer Herrschaft keinen Unruheherd mehr darstellte, verfügten die Könige Casmantiums über den nötigen Freiraum, um sich anderen Vorhaben zuzuwenden. Jeder wusste, dass Brekan Glansent Arobarn darauf erpicht war, seine Besitzungen um eine weitere Provinz zu ergänzen; jeder wusste, dass er die aktuelle Grenze seines Landes zu Farabiand nicht für das letzte Wort in dieser Angelegenheit hielt.
Also sorgte Iaor Safiad dafür, dass Farabiands Heere an beiden Grenzen deutlich sichtbar blieben. Und er unterstützte Handel und Geschäfte, da wohlhabende Kaufleute den Frieden bevorzugten und sich selten den Kopf darüber zerbrachen, wer welches Stück Land sein Eigen nannte, solange nur die Geschäfte munter ihren Lauf nahmen. Der alte Fuchs von Linularinum machte nicht viel Aufhebens um die Flussgrenze, solange es seine reichsten Untertanen bevorzugten,
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