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Grenzen der Sehnsucht

Grenzen der Sehnsucht

Titel: Grenzen der Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel Kraemer
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Aufbruchstimmung und Stasi-Vergangenheit
    Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ginge hier eine schwule Sado-Maso-Nummer ab. Ein paar Typen fallen grölend in die bahnhofsnahe New Orleans-Bar ein, im Schlepptau haben sie einen Mann in Sträflingsklamotten, sie ketten ihn an ein Geländer und trinken erst mal in aller Ruhe ein Bier.
    Die Verwirrung der Gäste ist einigermaßen groß, bis sich herausstellt, dass hier ein Junggesellenabschied gefeiert wird. Aber nicht etwa anlässlich einer bevorstehenden Homo-Hochzeit – was ja immerhin denkbar wäre, nein. Der junge Mann in Handschellen wird in wenigen Tagen ganz konventionell eine Frau ehelichen, und deshalb macht er mit seinen Kumpels „noch mal ordentlich einen drauf, wie man mir das Hetero-Ritual bereitwillig erklärt.
    Bis zu diesem Tag hatte ich, um ehrlich zu sein, noch nie etwas von Junggesellenabschieden gehört oder gesehen. Eine spätere Recherche ergab, dass das ein weit verbreiteter Brauch in Deutschland ist. Die Fotos, die man dazu im Internet findet, erinnern stark an Bilder vom Christopher Street Day: Männer, die Spaß an Kostümierung und Travestie haben, gerne nackte Haut zur Schau stellen und sich auf der Straße große Mengen an Alkohol zuführen.
    Wie aber kommen diese milde sächselnden Heten nun dazu, ausgerechnet in einer schwulen Kneipe die Sau rauszulassen?
    „Nu jo, wir dachten, ihr seid doch immer so locker druff!“
    Ach so. Mir dämmert, dass ich mir die Nachfrage hätte sparen können. Schließlich bin ich hier in Leipzig, und wie hieß es gleich noch mal im Merian über die Stadt? „Bunt, heiter und dem Neuen zugewandt.“ Und wenn das dort geschrieben steht, dann muss ja schließlich was dran sein.
    Jedenfalls genießt keine andere Stadt im Osten so sehr den Ruf von Unbefangenheit und Aufgeschlossenheit. Schon vor der deutschen Wiedervereinigung hat sich Leipzig einen Namen gemacht als ein Ort des friedlichen Aufbegehrens gegen das SED-Regime. Seither wird die Stadt als blühende Kulturmetropole gefeiert, als eine der wenigen Städte im Osten, in denen auch heute noch ein Gefühl von Aufbruchstimmung und Experimentierfreudigkeit vorherrscht – ähnlich der sagenumwobenen Movida in Spanien, jener kulturellen Bewegung, die nach dem Ende der Franco-Diktatur das urbane Leben in Städten wie Madrid und Barcelona erblühen ließ.
    Wer nach einem vergleichbaren Phänomen im Osten Deutschlands sucht, der wird, mal abgesehen von Berliner Szenevierteln wie Prenzlauer Berg und Friedrichshain, am ehesten in der Leipziger Südvorstadt fündig, diesem bunten Alternativbiotop aus Künstlern und Studenten, die nach der Wende Häuser besetzten und illegal Partys feierten oder Ausstellungen organisierten.
    Heute ist dort alles ein wenig etablierter, man stößt auf italienische Feinkostläden und Dönerbuden; immer mehr Fassaden werden renoviert, immer wieder machen neue Cafés, Restaurants und Werkstätten auf. Hier, rund um die Karl-Liebknecht-Straße, scheint mindestens so viel Leben zu pulsieren wie im Zentrum, in dem jahrhundertealte Kneipen wie Auerbachs Keller allabendlich Touristen anlocken.
    Auch Michael Berninger wohnt in der Südvorstadt. Er ist mit Herz und Seele Leipziger und Mitbegründer von culturtraeger, einer Werbeagentur, die sich seit mehr als zehn Jahren unter anderem auch für das kulturelle Leben der Stadt engagiert.
    Den ästhetischen Blick, den er für seinen Beruf braucht, sieht man auch seiner Wohnung an, einem großzügig ausgebauten und, ja doch, apart möblierten Dachgeschoss in einem Jugendstilhaus, das der 42-Jährige zusammen mit seinem Freund bewohnt. Die Terrasse ist üppig bepflanzt, an der Außenwand ranken Passionsblumen. Auf dem Küchentisch steht eine schlichte Vase mit frischen Gladiolen. Die Wand darüber ist in rechteckige, pastellfarbene Farbflächen aufgeteilt, als wäre es moderne Kunst, doch auf den zweiten Blick sieht man, dass darauf mit Kreide verschiedene Notizen vermerkt sind, es sich also um eine Funktionsfläche handelt.
    Das Verblüffendste ist allerdings: Berninger hat etwas für uns zum Essen zubereitet, obwohl wir uns nicht kennen und er auch gar nicht so richtig weiß, warum genau ich ihn nun eigentlich sprechen möchte. Ein Eintopf aus Linsen und Mangold vom Ökobauern. Wunderbar.
    Was ist denn nun das Einzigartige an Leipzig? Was ist dran an diesem Mythos von der wilden Boomtown Ost? Die prächtigen, stuckverzierten Jugendstilfassaden in der City zeugen von einer glorreichen

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