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Grenzen der Sehnsucht

Grenzen der Sehnsucht

Titel: Grenzen der Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel Kraemer
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für die Insel, weil ich hier immer noch gute Chancen habe. Das ist für Männer meines Alters nicht überall eine Selbstverständlichkeit.“
    So groß ist die Auswahl an jungen Männern hier auch gar nicht. Und das heißt: Man muss mit dem Vorlieb nehmen, was da ist. Schaut man sich um, fällt einem schnell auf, dass der Altersdurchschnitt mindestens doppelt so hoch sein dürfte wie am Strand von Ibiza. Viele der schwulen Besucher, die man an diesem Tag beobachten kann, zählen mindestens so viele Lebensjahre, dass sie sich noch an den Playboy Gunter Sachs erinnern dürften. Der hat mit FKK und legendären Strandpartys das freizügig-liberale Image von Sylt erst so richtig in die Welt hinausposaunt. Denn wo sich so einer rumtreibt, da sind die Paparazzi nicht weit.
    Der Ruf der Freizügigkeit war es, der damals eine größere Zahl schwuler Urlauber herlockte. Das war in den Siebzigern – und irgendwie scheint man auf Sylt in jenem Jahrzehnt stecken geblieben zu sein: Der Atmosphäre haftet an jeder Straßenecke ein gewisser Retro-Charme an.
    Zumindest abends zur Happy Hour im Gatz in der Strandstraße, wo eine große Schüssel Erdbeerbowle auf dem Tresen steht, die, wie sich herausstellen wird, aus hochexplosiven Ingredienzen zusammengemischt ist. Der Mann dahinter erinnert mich mit seinem friesisch-kantigen Gesicht an Detlev Buck. Neben ihm steht eine Frau, die nicht nur Bowle ausschenkt, sondern auch selbst hin und wieder einen größeren Schluck aus einem Glas schlürft.
    Aus den Lautsprechern tönt der Klassiker von Daliah Lavi: „Warum denken wir, wenn wir von Liebe reden, immer nur an Liebe zwischen Mann und Frau? Ja, das bleibt immer ein Geheimnis, das weiß niemand so ganz genau.“
    Auf der Bank vor dem Fenster erzählt man sich den neusten Tratsch. So berichtet einer, er habe Ole von Beust gesehen, „ganz verdruckst“ habe der gewirkt. Mit tief ins Gesicht gezogener Schüdmütze, so als wollte er auf jeden Fall unerkannt bleiben. Aber nicht etwa beim Cruising in den Dünen am schwulen Strand, sondern in einem billigen Ramschladen in der Fußgängerzone, ausgerechnet an einem Regal, in dem 99-Cent-Artikel auslagen. Für einen standesbewussten hanseatischen Bürgermeister ist das beinah abgründiger, als beim Koksen im Puff erwischt zu werden. Also kein Wunder, dass er unerkannt bleiben wollte.
    Ein anderer zerreißt sich das Maul über einen beleibten CSU-Bürgermeister aus Oberbayern, der zurzeit mit einem getigerten Stringtanga am Homo-Strand Aufsehen erregt. In der feuchtfröhlichen Runde herrscht darüber Konsens, dass der sich das von der Figur und vom Alter her eigentlich nicht leisten dürfe.
    Einer der Herren erinnert schließlich an den Tabubruch von Uschi Glas, der notorischen Siebzigerjahre-Ikone, die sich mit sechzig als Pin-up für ein Magazin im Bikini ablichten ließ. Warum also sollte ein Stringtanga für einen Herrn in den Fünfzigern ein Tabu sein? Wer wisse schon, unter welchem Druck der Mann in seiner bayrischen Kleinstadt stehe, da werde der ja wenigstens im Urlaub mal auf die Pauke hauen dürfen!
    Über die Leute ganz ohne Stringtanga oder sonst einem Rest an Körperverhüllung regt sich auf Sylt übrigens schon lang niemand mehr auf. Bis auf wenige Ausnahmen, wie zum Beispiel die britische Schriftstellerin A.L. Kennedy, die sich aus unerfindlichen Gründen als eine der wenigen ausländischen Touristinnen auf die deutsche Insel verirrte und neulich in einem Beitrag für die FAZ ihr Befremden gegenüber all den nackten Männern zum Ausdruck brachte. Die lägen auch an Stränden herum, die gar nicht für Freikörperkultur vorgesehen sind, „die Hüfte mit einer Entschlossenheit nach vorn gereckt, als erwarteten sie jeden Moment, ein Silbertablett unter ihre prachtvollen Genitalien gestellt zu bekommen.“
    Ja, für bekennende Calvinisten ist hier nicht das Paradies.
    Es ist spät geworden. Die Frau hinter dem Tresen im Gatz wirkt ein bisschen – wie soll man sagen? – überfordert. Die Erdbeerbowle! Sie hat wohl zu oft daran genippt. Nun fühlt sie sich nicht mehr imstande, ihren Kunden die Zeche auszurechnen. Sie beugt sich weit über die Theke, hält verschwörerisch eine Handfläche an die Seite ihres Mundes und schlägt flüsternd vor, einen Schätzbetrag zu berechnen.
    Was soll man da machen? Wer pedantisch und kleinlich ist, soll woanders seinen Urlaub verbringen! Für alle anderen ist Sylt allemal ein paar Tage Ruhe und Erholung wert.

    Leipzig
    Und seine Mythen
    Zwischen

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