Grenzen der Sehnsucht
runterkippen, nur, um mal wieder von sich reden zu machen.
Doch man darf nicht ungerecht sein und sich allein auf Klischees verlassen, die einem elitäre Hamburger Medienmenschen von ihrer Lieblingsinsel fortwährend vorgaukeln – und dies womöglich nur aus Eigeninteresse, weil sie dort möglichst ungestört bleiben wollen. Am besten, man macht sich selbst ein Bild, vor allem, wenn man ohnehin gerade in der Nähe von Hamburg weilt und ein, zwei Tage in seiner Zeitplanung übrig hat.
Westerland auf Sylt, an einem Julisamstag. Am Ende der Haupteinkaufsmeile Friedrichstraße ergattere ich ein günstiges Hotelzimmer, ganz ohne Voranmeldung. Dass es direkt über einer Discothek liegt, aus der bis fünf Uhr früh die Bässe wummern, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Im Muschelpavillon an der Strandpromenade spielt eine Kapelle Griechischer Wein. Und Der Strand von Barba dos. Die musikalische Auswahl legt nahe, dass hier die deutschen Touris unter sich bleiben sollen. Von internationalem Flair keine Spur.
Es herrscht Rummelatmosphäre. In den Liegestühlen und Strandkörben fläzen sich Urlauber jenseits der vierzig, unter ihnen vereinzelt auch schwule Pärchen, alle mit einem Glas Prosecco, Pfirsichbowle oder Caipirinha in der Hand. Und das schon am frühen Nachmittag bei brütender Hitze. Sylt, ein beschwingter Zufluchtsort für Alkoholiker!
Indes erweist es sich als gute Idee, die Wein-, Cognac-und Likörgläser nur gegen Pfand herauszugeben. Trotz der geradezu brisanten Promillewerte, die einigen Schnapsdrosseln sichtlich das Gehen in den modischen, aber rutschigen Flipflops erschwert, scheint das System mit der Rückgabe zu funktionieren.
Überhaupt ist der Strand ein Musterbeispiel deutscher Ordentlichkeit, wie man ihn auf den Balearen oder sonstwo im Ausland nie vorfindet. Nachdem die Kapelle aufgehört hat zu spielen, lässt keiner der aufbrechenden Gäste den Bierdeckel oder die Bild -Zeitung einfach liegen. Nein, alles kommt brav in den Mülleimer.
Auch auf dem Weg entlang der Dünen in Richtung Süden kann man sicher sein, dass sich jeder an die Vorschriften hält, die hier durch einen Wald an Schildern geregelt sind. „Achtung, Naturschutzgebiet, bitte nicht betreten!“
Kein Problem.
Heikler wird es schon damit: „Sandburgen bauen untersagt!“ Durch die Auflockerung des Strandes wird nämlich der kostbare Sand mit der Zeit weggespült. Allerdings bedeutet das Verbot eine echte Provokation für die durchschnittliche deutsche Kleinbürgerfamilie, über die mal ein Kulturwissenschaftler aus Kassel herausgefunden haben will, dass für sie die Sandburgen eine wichtige Funktion erfüllen, in etwa vergleichbar mit den Gartenzwergen zu Hause. Kein Wunder, dass vielen diese Vorschrift zu weit geht, jedenfalls setzen sich einige ungerührt darüber hinweg.
Ein paar Kilometer südlich von Westerland, wo die Menge der Strandspaziergänger deutlich ausdünnt, flattert eine Regenbogenfahne im Wind. Daneben weist ein Schild zum Café Oase zur Sonne. Gleich daneben spielt eine Männergruppe Nackt-Volleyball. Dahinter sieht man ein paar hungrige Herzen suchenden Blickes durch die Dünen streifen. Ein Verbotsschild ist zwar weit und breit nicht in Sicht, aber mit Sicherheit verstoßen diese Männer gegen den Dünenschutz! Doch was Gartenzwerge und Sandburgen für die deutsche Kleinfamilie, das ist eben das Cruising-Gebiet für den Homo.
Hier befindet sich also der Szenestrand. Es ist nicht gerade so, dass man vor lauter Gedrängel keinen Platz findet – aber von toter Hose kann auch keine Rede sein.
„Du musst neu hier sein“, spricht mich ein Mann in den Vierzigern mit badischem Akzent an. Er heißt Helmut, ist Krankenpfleger in Freiburg und verbringt seinen Urlaub schon seit vielen Jahren auf Sylt. Und das immer über mehrere Wochen. Diesmal hat er sich ein Apartment gemietet, weil ihn sein neuer Liebhaber für ein paar Tage besuchen wird. Bislang hat Helmut immer im Haus Hallig eingecheckt, einer kleinen Pension für Schwule.
„Dort kann man prima als Single hingehen. Schon morgens im Frühstücksraum findet man Kontakt. Vorausge-setzt, man hat keinen schwierigen Charakter.“
„Schwieriger Charakter“ hört sich ulkig an, irgendwie ein bisschen angestaubt. Ich erinnere mich, so hat man in früheren Zeiten gesagt, lange bevor das Wort „zickig“ seinen Siegeszug antrat.
Und warum zieht es ihn, der ja von relativ weit hierher gereist kommt, ausgerechnet nach Sylt?
„Och, ich hab ein Faible
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