Grenzen der Sehnsucht
Kontroll-Freaks
Wo die Homosexualisierung Deutschlands
ihren Ausgang nahm
Über kein anderes Volk in Deutschland wird so niederträchtig gespottet wie über die Schwaben. Was man ihnen nicht alles ankreidet: dass sie fanatisch um Reinlichkeit und Rechtschaffenheit bemüht, des Hochdeutschen nicht mächtig und obendrein noch geizig und arbeitsam seien bis zum Herzinfarkt. Das alles ist freilich nicht völlig aus der Luft gegriffen. Und doch verbirgt sich hinter den Lästereien in Wirklichkeit purer Neid, denn Stuttgart, da gibt es gar keine Zweifel, ist nicht nur eine äußerst wohlhabende Stadt, sondern auch die schönste in ganz Deutschland.
Atemberaubend ist schon der Weg vom Flughafen über den Stadtteil Degerloch. Fährt man die Neue Weinsteige in das Zentrum hinab, eröffnet sich einem der Blick über eine üppig begrünte Dächerlandschaft mit burgenartigen Backsteinvillen, die erhaben über einem Tal thronen. Dort unten, auf dem Boden eines riesigen Kessels, liegt das Zentrum der alten Residenzstadt. Damit ist Stuttgart die einzige Großstadt in Deutschland, die mit ihren abenteuerlich steilen Straßen und ihren Hügeln etwas von dem Reiz San Franciscos versprüht.
Das war es aber auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Einen Ozean oder ein nennenswertes Fließgewässer, das im Sommer etwas frischen Wind in das schwüle Kesselklima bringen würde, gibt es leider nicht, wenn man vom Neckar mal absieht, den die Bewohner jedoch kaum in ihr städtisches Leben einbeziehen.
Was Großstadtflair betrifft, sieht es hier ohnehin etwas bescheiden aus. Von bunten Subkulturen wie in San Francisco, von der pulsierenden Energie ethnischer Minderheiten etwa, von lärmenden Aktivisten der Homo-Szene und alternativen Bewegungen, die der biederen Schwabenmetropole etwas Leben einhauchen könnten, kann hier weiß Gott keine Rede sein, obwohl Stuttgart immerhin das Zentrum eines Ballungsgebietes von rund zehn Millionen Einwohnern ist.
Statt Subkultur herrscht hier die Hochkultur. Das John-Cranko-Ballett etwa zählte lange Zeit zur Weltspitze, und wer sich mit dem Milieu der schwäbischen Honoratioren abfinden mag, kann das Leben hier durchaus genießen. Alle anderen müssen früher oder später die Flucht ergreifen.
Schuld an dem weitgehend keimfreien Klima in der Stadt, das nicht gerade von unbändigem Willen zum Auf-die-Pauke-hauen zeugt, ist der schwäbisch-strenge Pietismus, der in Stuttgart an nahezu jeder Ecke seine Spuren hinterlassen hat. Wie etwa auf der Steintafel eines male-risch gelegenen Biergartens am Eugenplatz, in die der folgende Spruch eingraviert ist:
Liabe Leit seid net verdrosse
wenn mei Gärtle ab halb zehn ischt geschlosse.
Denkt doch bloß oimal dro
an da liabe Nachbarsmo!
Warum eigentlich auch nicht! Wer hat sich schließlich noch nicht über nächtliche Ruhestörer in der Nachbarschaft geärgert? Doch nur die, die ohnehin nicht arbeiten! Davon gibt es in Stuttgart nicht viele.
So kann sich die Stadt nicht nur einer der bundesweit niedrigsten Arbeitslosenquoten rühmen, sondern auch der höchsten Zahl an Tüftlern, jedenfalls liegt sie in der Zahl der Patentanmeldungen an oberster Stelle in Deutschland. Auch der zwanghafte Drang zu Arbeit und Höchstleistungen ist Teil des pietistischen Erbes. Freilich bleiben so viel Fleiß und Nützlichkeitsdenken nicht ohne Auswirkung auf das Sex- und Liebesleben.
Davon jedenfalls kann sich überzeugen, wer auch nur eine einzige Sendung von Lämmle live gesehen hat. Das war eine bundesweit beispiellose Fernsehshow des Südwestdeutschen Rundfunks, die nach neun Jahren bedauerlicherweise eingestellt wurde. Keine andere Sendung hat so tiefe Einblicke in die schwäbische Psyche geliefert wie das Programm der TV-Therapeutin, die mit ihrer Frisur und ihrer Stimme als Schwester von Miss Piggy hätte durchgehen können, und mit einer ähnlichen Energie bewegte sie sich auch vor der Kamera, nur eben herzlicher und verständnisvoller, und natürlich frei von jeglichen Allüren. Brigitte Lämmle, einst Mitglied im legendären Dr. Sommer-Team bei Bravo, lieferte Samstag für Sams-tag verzweifelten Anrufern Hilfestellung. Sie kannte ihre Pappenheimer, und es verging kaum eine Sendung, in der sich nicht ein Problem darauf zurückführen ließ, dass mal wieder in einem schwäbischen Haushalt Liebe mit Leistung verwechselt oder unter dem Aspekt der Nützlichkeit gelebt wurde. Manchmal bekam sie auch Anrufe von nahrungsaufnahmeverweigernden jungen Männern, von denen einige
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