Grenzen der Sehnsucht
deutschen Markt Baustoffe einkaufen wollen.
In der Moskauer Homo-Szene kennt er sich inzwischen sehr gut aus. „Sie ist überhaupt nicht so offen wie in Berlin“, weiß Kay. Das würde ihn jedoch nicht davon abhalten, für eine Festanstellung sofort überzusiedeln. Verdrehte Verhältnisse: In Moskau hingegen sehnen sich viele Schwule nach Deutschland, das für sie Freiheit und schwules Selbstbewusstsein bedeutet. Die Veränderungen in ihrem Land gehen ihnen nicht schnell genug. Besonders die deutsche Hauptstadt hat es ihnen angetan. „Es ist merkwürdig“, sagt Kay, „das Bekenntnis von Klaus Wowereit hat die Moskauer Schwulen total mitgerissen. Kein Mensch weiß, dass der Bürgermeister von Paris ebenfalls schwul ist. Dagegen werden Berlin und Wowereit mit dem offen schwulen Leben identifiziert.“
Dann hält Kay einen Moment inne und wirkt dabei so abwesend, als wäre er in Gedanken schon wieder unterwegs in Richtung Ural.
Klaus Wowereit: Unterwegs in schwuler Mission?
Er ist einer der mächtigsten Männer in Moskau. Juri Luschkow – muskulös, ein wenig untersetzt, markante Halbglatze – regiert seit über zehn Jahren Berlins Partnerstadt. Und er ist ein echter Macho. Ein Pascha. Oder wie man auf russisch sagt: ein Muschik, der bei Minusgraden in der Moskwa badet, sich mehr für Fußball als für Kultur begeistert und in der politischen Arena vor allem durch die Neigung zum Brachialen auffällt. Und genau das finden die Moskauer an ihrem Bürgermeister auch gut so. Luschkow ist beliebt wie ein, sagen wir mal, Profiboxer. Eigentlich sind da nur wenige, die ihn nicht ausstehen können. Zu ihnen gehören die Schwulen und Lesben in der Stadt, die ihn genauso verachten wie er sie. Als sie auf Moskaus Straßen eine Parade feiern wollten, hat Luschkow es ihnen untersagt. Eine solche Veranstaltung sei „Propaganda“, befand dieser, damit würden sie der Bevölkerung „abartige Verhaltensnormen“ aufdrängen.
Mit solchen Phobien im Kopf wundert es nicht, dass das Moskauer Stadtoberhaupt seinen Berliner Amtskollegen Klaus Wowereit für einen nicht ernst zu nehmenden Paradiesvogel hält. Ein Schwuler als Repräsentant der deutschen Hauptstadt? Ein Spitzenpolitiker, der seine sexuelle Vorliebe für Männer in aller Öffentlichkeit preisgibt? Wie konnte so einer zum Volksvertreter gewählt werden? Solche Gedanken müssen es wohl sein, die Luschkow in den Sinn kamen, nachdem Wowereit vor laufender Kamera verkündet hatte, dass er schwul ist. Genau ein Jahr danach erscheint der Berliner zu seinem ersten Amtsbesuch in Moskau.
Luschkow lässt ihn seine Verachtung spüren und absolviert mit ihm lediglich das offizielle Pflichtprogramm: die Einweihung des Berlin-Hauses in der Nähe des Kremls. Zum gemeinsamen Essen nimmt sich der Russe keine Zeit. Um sein Misstrauen demonstrativ zu unterstreichen, empfängt Luschkow am Abend zuvor Wowereits Amtsvorgänger Eberhard Diepgen, obwohl dessen politische Karriere zu diesem Zeitpunkt unwiderruflich am Ende ist, und lädt ihn zu Speis und Trank in freundschaftlicher Atmosphäre ein. Mit am Tisch: Berlins Ex-First Lady Monika Diepgen.
Vermutlich hätte sich Klaus Wowereit an der Tafelrunde des Moskauer Bürgermeisters ohnehin fehl am Platz gefühlt. Ein Gastmahl bei Juri Luschkow wurde einmal von einem anwesenden Journalisten als „Fressorgie“ beschrieben, bei der die einzelnen Gänge von einem kostümierten Liliputaner angesagt und von exotisch beschürzten Damen serviert werden. In einem solchen Ambiente hätte man vielleicht auch den Homo-Bürgermeister aus Berlin als Jahrmarktattraktion gesehen. Da prallen Welten aufeinander, wie sie gegensätzlicher nicht sein können. Unwahrscheinlich, dass sich zwischen dem vierschrötigen Luschkow und dem feinsinnigen Wowereit der in der Politik oft beschworene gute Draht entwickelt, der über gemeinsame inhaltliche Fragen bis weit in die Privatsphäre hineinreicht. Erinnert sich noch jemand an den gemeinsamen Wanderurlaub von Helmut Kohl und Michail Gorbatschow am Baikalsee, wo die deutsche Einheit ausgetüftelt und nur scheinbar nebensächlich über Ehefrauen und Kinder geplaudert wurde? So einfach lässt sich das Politische vom Privaten eben nicht trennen.
Ungeahnte Widrigkeiten sind das, mit denen sich der Berliner Spitzenpolitiker auf dem diplomatischen Parkett konfrontiert sieht. Wer hätte das vorhersehen können? Wohin ihn auch immer seine Dienstreisen führen, ob nach Mexiko, Budapest oder Peking: Überall wird Wowereit
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