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Grenzen der Sehnsucht

Grenzen der Sehnsucht

Titel: Grenzen der Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel Kraemer
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eher seltenen Erscheinungen. Berlin, das bedeutet Chaos, Zerrissenheit und scharfe Kontraste, nicht nur ästhetisch, sondern auch im Nebeneinander der Kulturen. Der Gegensatz zwischen Ost- und Westmentalität ist nur ein Spannungsfeld von vielen an diesem Ort, der für viele ein brodelndes Experimentierlabor ist. Manche fühlen sich gerade dadurch in ihrer Arbeit inspiriert: Schauspieler und Medienschaffende, Plattenaufleger und Popmusiker, Modemacher und Künstler. Vor allem Künstler: Weil Berlin so billig ist wie keine andere Millionenmetropole der westlichen Hemisphäre, strömen sie von überall her in die Stadt. Manche schaffen hier ihren Durchbruch; andere versuchen ihr Glück als Überlebenskünstler auf der Straße.
    Was für ein verwirrender Anblick: Zwei nackte, zwitterhafte Gestalten umklammern sich, pressen die Wangen aneinander und starren dabei so entsetzt aus ihren Augenhöhlen wie die Kreatur auf Edvard Munchs Gemälde „Der Schrei“. Nein, sehr wohl scheinen sich die beiden Seite and Seite nicht zu fühlen.
    Der Mann mit dem ausgemergelten Gesicht hat die beiden Figuren seiner Kreidezeichnung auf dem Asphalt „Los Amantes“ genannt, die Liebenden. Er murmelt etwas auf Spanisch vor sich hin und haut die achtlos an ihm vorbeirauschenden Passanten vergeblich um eine Spende an. Vermutlich soll das seltsame Paar die zwei Stadthälften symbolisieren, die über Jahrzehnte getrennt waren und seit dem Fall der Mauer nicht etwa miteinander verschmolzen sind, nein: Sie reiben sich aneinander, dass die Funken nur so sprühen.
    Das ist ein wahrhaft seismografischer Ort: hier auf der Brücke über dem verwilderten Gleisgelände an der Warschauer Straße, am Rande des Stadtteils Friedrichshain, wo die Straßenbahn den Boden vibrieren lässt, wo es rumort und nach Müll stinkt, nicht weit entfernt vom alten Grenzstreifen am Kreuzberger Spreeufer.
    Nur ein paar Straßenecken weiter haben sich inzwischen die Zentralen von MTV Deutschland und Universal Music niedergelassen, um sich von dem kreativen Großstadtmilieu inspirieren zu lassen.
    Hunderte strömen am frühen Abend aus U- und S-Bahn in Richtung Osten; aus dem Hintergrund grüßen die beiden Türme am Ende der alten Stalinallee. So hieß früher die über hundert Meter breite Prachtstraße aus den fünfziger Jahren, die von palastartigen Arbeiterwohnhäusern im sowjetischen Zuckerbäckerstil gesäumt wird und inzwischen mehrfach umbenannt wurde, zuletzt in Frankfurter Allee. Eine Kulisse, die einen im ersten Augenblick glauben machen könnte, man wäre nicht in Berlin, sondern irgendwo in Moskau. Oder vielmehr in einem wild zusammengeschnipselten MTV-Spot. Dabei war die Gegend hier vor zehn Jahren noch recht öde, erst Mitte der Neunziger entwickelte sich eine lebendige Szene im angrenzenden Arbeiterviertel aus der Zeit um 1900, mit Kneipen, die sich „Volckswirtschaft“ oder „Lee Harvey Oswald“ nennen.
    Auffällig viele junge Leute schlendern durch die Straßen. Viele davon mit Piercings in Nase, Augenbraue oder Unterlippe, mit langen Rastalocken oder Igelhaarschnitt und bunt gefärbten Strähnen, andere wiederum mit eher dezentem und dennoch individuell zusammengewürfeltem Outfit aus dem Second-Hand-Laden. Nicht auf edel getrimmt, aber auch nicht auf Bürgerschreck, sondern mit einer gewissen Leichtigkeit in der Kombination. Ein Hauch von Androgynität ist den meisten von ihnen zu eigen, auch wenn sie dem Geschlecht nach immer noch deutlich zu unterscheiden sind. Ein Freund aus Mailand sagte mir einmal, er empfinde es als typisch für Berlin, dass die Männer in der Regel weniger auf Macker getrimmt seien und die Frauen seltener im Tussi-Look daherkämen. Wenn das so ist, dann ist Berlin hier in Friedrichshain am berlinischsten.
    Wer sich nun sexuell an welchem Geschlecht orientieren mag, ist schwer zu erkennen, selbst für ein Auge, das in dieser Frage bereits geübt ist. Auch einigen der jungen Pappis und Mammis, die ihren Nachwuchs huckepack herumtragen oder in einem Fahrradanhänger im Kiez rund um die Simon-Dach-Straße herumkutschieren, könnte man, ohne mit der Wimper zu zucken, ein Homo-Etikett verpassen – irgendetwas würde sich auf jeden Fall finden.
    Ganz anders jedoch bei Kay Stromberg, der keines jener szenetypischen Schwulenattribute aufweist, die einem in manchen einschlägigen Bars sofort ins Auge stechen: also kein körperbetontes, viel zu enges Hemdchen von HM oder Zarah, kein modisch gestutzter Bart zwischen Unterlippe und

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