Grenzen der Sehnsucht
ausgerechnet die BZ mit einem Foto über die gesamte Titelseite auf. Es zeigt Wowereit an der Seite seines Lebensgefährten Jörn Kubicki. „Das ist Jörn, Wowis Liebster“, steht darüber in dicken Lettern geschrieben. Und in einer weiteren Schlagzeile jubelt die auflagenstarkste Zeitung der Hauptstadt: „Endlich! Berlins Regierender Bürgermeister führt seinen Freund in die Gesellschaft ein.“ Während sich die anderen Medien noch betulich zurückhalten, sich winden und zieren, führt man sich bei der BZ auf einmal so auf, als hätte man schon immer die Homo-Emanzipation befürwortet. Verblüffenderweise ist der ausführliche Bericht über Wowereit und Partner auf der Berliner Aids-Gala von keinerlei Vorurteil getrübt. Anders, als man es von dem Blatt gewohnt ist.
Mit der Titelgeschichte über den ersten schwulen „First Gentleman“ der Geschichte schnellen die Verkaufszahlen um mehr als 17.000 Exemplare nach oben; innerhalb weniger Stunden ist die BZ an diesem Tag vergriffen. Das verrät mir der damalige Chefredakteur, der auf den journalistischen Scoop stolz ist und am Telefon bereitwillig darüber Auskunft gibt, wie es zu seinem persönlichen Sinneswandel kam: „Wir haben festgestellt, dass sich die Berlinerinnen und Berliner für das Thema interessieren. Da mussten wir reagieren.“ Aha. So einsichtig hat bislang noch kaum einer den notorischen Rechtspopulisten Gafron reden hören. In diesem Fall war er dazu gezwungen, eine dicke Kröte zu schlucken: Die meisten Berliner sind nämlich Feuer und Flamme für ihren Homo-Bürgermeister, auch wenn der in seinen Reden nicht gerade nach den Sternen greift, sondern eher holprig und nüchtern klingt und sich in Talkshows wie Berlin Mitte mehr schnippisch als souverän gibt. Mitunter treibt die Euphorie seltsame Blüten. Sonntags in der S-Bahn kann man hören, wie ältere Damen ihren Männern erzählen, welche Krawatte „Wowi“ neulich bei Sabine Christiansen getragen hat. Oder dass er wieder beim Friseur war.
Der Wowi-Kult hat die Stadt ergriffen und lässt sie für eine ganze Weile nicht los. Und er selbst ist es, der ihn immer wieder aufs Neue nährt. Kein anderer Bürgermeister ist so oft in Unterhaltungssendungen zu sehen, ob nun im Sketch mit Anke Engelke, im Ringkampf mit Götz Aismann oder bei Wetten dass? an der Seite von Thomas Gottschalk. Wowereit weiß sich besser als jeder andere Politiker in der Medienwelt zu inszenieren, und das mit Erfolg.
Kulturschock für Wessis:
Hundescheiße, Sexy Kiez-Bingo und Kuhfelltapete
Auch in der schwulen Szene zeigte man sich von Anfang an begeistert von Wowereits kühnem Schritt, keine Frage, obwohl sich nun ausgerechnet dort als Erstes wieder jene ins Blasierte abgleitende Coolness breitmachte, mit denen sich typischerweise viele Berliner bei Nichtberlinern unbeliebt machen, dieses Mal nach dem Motto: Wer ist gleich noch mal Klaus Wowereit?
Einem reizüberforderten Metropolenbewohner erscheint nahezu jedes Ereignis nach kurzer Zeit schon wieder als langweilig oder nebensächlich. Das trifft besonders auf Berlin zu, wo sich in den vergangenen Jahren die Ereignisse überschlugen: die blitzartige Verschmelzung zweier Stadthälften, die zuvor gegensätzlichen politischen Systemen angehörten, oder der Wegfall hunderttausender Jobs in der Industrie. Ganz zu schweigen von dem rasanten Umbau der gesamten Innenstadt, der nur schleppend neue Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich hervorbrachte.
Berlins neue Fassaden glitzern zwar, und die alten werden aufpoliert, sie dienen aber nur als Kulissen für glamouröse Feste und spektakuläre Filmszenen. Nur mühselig können sie manche Besucher darüber hinweg täuschen, dass Berlin bankrott und so handlungsunfähig ist wie eine von Korruption heruntergewirtschaftete Hauptstadt einer Bananenrepublik. Warum sollten sich Schwule großartig an dem Kuriosum aufhalten, dass es in der Stadt ein bekennender Homo an die Spitze geschafft hat? Vor allem, wenn der überall – selbst an Szeneprojekten – sparen und kürzen will, „bis es quietscht“, wie eines seiner verunglückten Zitate lautet.
Der erste, der die Spaßbremse zieht und sich damit weit aus dem Fenster lehnt, ist Olaf Alp. Er ist Herausgeber von Sergej, dem schwulen Stadtmagazin Berlins, das mit einer Auflage von etwa 40.000 in Szeneläden, Bars und Kneipen ausliegt. „Auf einmal tun alle so, als hätte Wowereit das Schwulsein erfunden“, unkt Alp in einem Leitartikel unmittelbar nach dem Wowereit-Outing und
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