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Grenzen der Sehnsucht

Grenzen der Sehnsucht

Titel: Grenzen der Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel Kraemer
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schreibt ihm lange Briefe über die bröckelnde Mauer vor der Tür und all die anderen Ereignisse, die sich von nun an überstürzen, aber für Kay bleiben das Informationen aus zweiter Hand. Sie kommen ihm einfach abstrakt und unfassbar vor.
    Als sich Kay 1994 nach Abschluss seines Bauingenieurstudiums wieder in Berlin ansiedeln will, ist nicht nur die Mauer verschwunden, sondern fast alles aus dem alltäglichen Leben, das ihm vertraut war. Er ist zurück in der Fremde.
    „Für mich war die neue Zeit anfangs unbekannt und bedrückend“, sagt er. Auch gegenüber Berlins Schwulenszene, die er bislang weder in Ost noch West kennen gelernt hat, bleibt er erst mal zurückhaltend. Ganz und gar nicht kalt lässt ihn hingegen die seltene Erstauflage einer klassischen CD-Kollektion des russischen Plattenlabels Melodia; sie verführt ihn zum ersten Konsumrausch mit der neuen Währung.
    Sein Faible für alles Russische und seine Kontakte nach Kiew, Moskau und in andere Städte der Sowjetunion ersetzen ihm den verlorengegangenen roten Faden. „Trotz aller Unterschiede gab es auch viele Gemeinsamkeiten zwischen der DDR und der russischen Kultur“, sagt er. Außerdem gehen die Veränderungen in Russland langsamer vonstatten als hier; sie sind für ihn leichter nachzuvollziehen. Kay möchte ein besseres Verständnis gewinnen für das, was passiert ist. Von Nostalgie will er nichts hören.
    „Keine Frage, mir geht es durch die Wende nur besser“, stellt er klar. Nur fehlen ihm ein paar Puzzleteile. Er hat das ungute Gefühl, dass in der Hektik der Wiedervereinigung „einiges vermasselt“ worden sei.
    Immerhin konnte er seit seiner Rückkehr sein Schwulsein besser ausleben und damit Erfahrungen sammeln, auch wenn er sagt, dass ihm das erst mal gar nicht so wichtig gewesen sei. Heute ist er in der Berliner Szene sehr engagiert: Er legt Platten auf in der Russendisco Transsib im Schwuz, zu der manchmal auch russische Heteros Einlass begehren, weil sie von irgend-wem erfahren haben, dass dort Heimatklänge zu hören sind. Nicht immer wissen sie, für wen genau die Musik gespielt wird. „Da ist es besser, wenn man die am Eingang vorwarnt“, sagt Kay und macht dabei eine beschwichtigende Bewegung mit der Handfläche, wie ein Verkehrspolizist, der ein Auto anhalten will. „Sonst kann es nämlich Ärger geben.“
    Hier ins HT kommt er wöchentlich zum Stammtisch Golubaja Svetschka für russischsprachige Schwule; er selbst hat ihn vor fünf Jahren aus der Taufe gehoben. „Dabei wird viel geflirtet, das hält den Treffpunkt am Leben“, grinst Kay. Einen Iwan, Juri oder Sergej als Liebhaber hat er aber nicht, obwohl sich in Berlin Tausende schwuler Russen aufhalten. Einige von ihnen sind nicht offiziell gemeldet; sie schlagen sich mit Schwarzarbeit durch. Viele sind gekommen, weil das schwule Leben einfacher ist als in ihrer Heimat. Friedrichshain ist auch bei ihnen ein beliebtes Pflaster, eine Menge Wohnungen in der Gegend stehen leer, die Mieten sind günstiger als in anderen Innenstadtbezirken. Viele finden vorübergehend Unterschlupf bei Bekannten oder Verwandten, manchmal auch bei Typen, die sie in der Szene abgeschleppt haben.
    Kay hat einen Lebensgefährten, der ebenfalls aus dem Osten Deutschlands stammt. Die gemeinsame DDR-Identität ist für Kay keineswegs unerheblich, und manchmal habe ich den Eindruck, sie wäre für ihn wichtiger als seine schwule Identität. „Mit einem anderen Ossi ist es weniger anstrengend; man muss nicht so viel erklären und kann bei Goodbye, Lenin an denselben Stellen lachen.“ Zwingend notwendig ist diese Gemeinsamkeit für ihn allerdings nicht, zweimal hatte er auch schon eine Liebesbeziehung mit einem Wessi.
    Dass er jetzt im Unterschied zu seiner Zeit in Kiew so offen schwul sein und seinen Freund auch auf der Straße einfach mal in den Arm nehmen und küssen kann, „das ist schon toll“, sagt er, aber es klingt zögerlich, wie ein abgerungenes Zugeständnis. Als wäre die neugewonnene Freiheit einerseits ein glücklicher Umstand, auf den er andererseits auch verzichten könnte, weil es für seine Identität wichtigere Dinge als das Schwulsein gibt. Zum Beispiel Arbeit. In Berlin hält er sich mühselig als Selbstständiger über Wasser, erteilt Schulungen in Datenverarbeitung. Alles in allem fühlt er sich wohl, aber immer wieder zieht es ihn nach Russland. Hin und wieder fischt er auch Aufträge in der russischen Hauptstadt an Land, wo er dann Unternehmer berät, die auf dem

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