Grenzen der Sehnsucht
Kinn, auch kein Hinweis auf einen Fetisch. Eher sieht er adrett aus. Seine schwarz umrandeten Brillengläser geben ihm einen leicht intellektuellen Touch. Ganz und gar aus dem Rahmen fällt der Mittdreißiger eigentlich nur durch seine Biografie. Besonders gut passt sie zum deutschen Einheitsfest, das in wenigen Tagen ansteht. Die PDS will es groß feiern und hat zwecks Ankündigung den gesamten Kiez zuplakatiert, hier in Friedrichshain ist nämlich eine ihrer Hochburgen.
Kays Geschichte ist so eng mit der jüngeren Geschichte der Stadt verknüpft wie kaum eine andere. Sie erinnert an Goodbye, Lenin, jenen Kultfilm, der von einer selbstbewussten DDR-Bürgerin erzählt. Kurz vor dem Mauerfall im November 1989 fällt sie in ein Koma und verschläft den gesamten Siegeszug des Kapitalismus. Auch Kay hat damals nicht miterlebt, wie sich der Umsturz ereignete. Es fehlen ihm allerdings nicht nur acht Monate, sondern ganze fünf Jahre. Und niemand hat für ihn die DDR im Kleinen wieder auferstehen lassen, so wie im Film der brave Sohn für seine Mutter. Für Kay ist das, was nach dem Zusammenbruch von Honeckers Regime geschehen ist, immer noch unbegreiflich – ohne die Vergangenheit verherrlichen oder an ihr kleben zu wollen.
„Wenn ich zurückdenke, klafft da einfach nur eine große Lücke“, sagt er, runzelt dabei ratlos die Stirn und starrt in seine Kaffeetasse.
Wir sitzen im HT in der Kopernikusstraße, einem anheimelnden, schwulen Nachbarschaftstreff, der bald sein fünfjähriges Jubiläum feiert. Eine typische Berliner Nachwende-Bar fernab der schicken Mitte, in die nicht viel Kapital investiert wurde, und doch wirkt das Lokal großzügig. Es ist geräumig; die Wände sind in warmen Farbtönen gestrichen. Die Einrichtung mit Sofas aus den siebziger Jahren ist improvisiert, gleichwohl hat man das Gefühl, dass hier alles zusammenpasst. Den Mann hinterm Tresen kennt Kay gut, es ist eine seiner Stammkneipen. Hier im Kiez ist er zu Hause.
Dass Kay den Fall den Mauer verpasst hat, ist auch deswegen kurios, weil er von seinem Schlafzimmer aus einen Logenblick auf den historischen Schauplatz hatte. Damals wohnte er mit seinen Eltern im ehemaligen Berliner Randbezirk Mitte, direkt an der Leipziger Straße, die früher eine ruhige Wohnstraße war und seit der Wende direkt an den verkehrsumtosten Potsdamer Platz anschließt. Auf die Mauer konnte Kay fast spucken. Gegenüber, auf Kreuzberger Seite, ragte das zwanziggeschossige Verlagshochhaus in die Höhe, das Axel Springer zur Zeit des Kalten Krieges errichten ließ, als ein weit sichtbares Fanal gegen den Kommunismus im Osten.
Kay wohnte ebenfalls in einem Hochhaus, in einem von vier Wohntürmen der Leipziger Straße, die im Auftrag des Ostberliner Magistrats auf dieselbe Höhe hochgezogen wurden, als Reaktion auf die in Architektur gegossene Provokation des Westens. Sie sollten das Springer-Haus durch die Vervielfältigung seiner Kubatur entwerten. In dieser Gegend lässt sich an fast jedem Gebäude die Geschichte Berlins ablesen.
„Ich bin an der Grenze aufgewachsen und hab irgendwie gar nicht gemerkt, dass da eine Mauer steht“, sagt Kay. „Als ich ein Kind war und Besuch aus Bulgarien zu uns kam, fand ich die Fragen von denen immer komisch, wie zum Beispiel: ,Und die Häuser da drüben, die gehören wirklich zum Westen?’ Für mich war die Grenze einfach selbstverständlich, und niemals hab ich mich gefragt, was dahinter ist.“
Nicht lange nach der schulischen Ausbildung bekommt er den Zuschlag für einen Studienplatz in Kiew, Tausende von Kilometern entfernt. Es ist das Jahr 1989, Kay weiß längst, dass er schwul ist, auch wenn er seine Sexualität bislang noch kaum ausgelebt hat. Von den zweihundert DDR-Studenten ist er bei weitem nicht der einzige Homo, wie er bald herausfindet, und trotzdem kauert er ständig in Habachtstellung, da Sex unter Männern zu dieser Zeit in der Ukraine streng verboten ist und in der Bevölkerung als Todsünde gilt. Weil er kein Mädchen hat, fragt ihn der Vater eines angehimmelten Freundes: „Bist du etwa schwul?“. Da schießt ihm vor lauter Schreck eine Ladung Adrenalin ins Blut. „Von den Einheimischen durfte das auf keinen Fall irgendjemand erfahren.“
Derweil geht es in Berlin und Leipzig mit Demonstrationen los, bald darauf kommt es zur Massenflucht über Ungarn. Kay kriegt das überhaupt nicht mit, weil das Ukrainische Fernsehen nur gefilterte Informationen ausstrahlt. Deutsche Zeitungen gibt es kaum. Sein Vater
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