Grenzen der Sehnsucht
nicht nur als Berliner Bürgermeister, sondern auch als Schwuler wahrgenommen. Als Botschafter einer Stadt, in der Homosexualität Teil des öffentlichen Lebens ist, mehr als anderswo in Europa. Für die meisten gilt er dadurch als Exot; für viele Schwule und Lesben ist er aber ein Held. Wider Willen, wohlgemerkt, denn eigentlich ist ihm diese Rolle eher übergestülpt worden, als dass er sie freiwillig gewählt hätte. Denn auch wenn er aus seiner sexuellen Orientierung niemals ein Geheimnis gemacht hatte – auch nicht in der Zeit vor seinem öffentlichen Bekenntnis –, so hatte er mit der Schwulenbewegung nie etwas am Hut. Anfangs war er darum bemüht, sein Schwulsein aus seiner politischen Laufbahn herauszuhalten, auch wenn sich heute kaum noch jemand daran erinnert.
Das ist es freilich, was ihn von einem Politiker wie Harvey Milk unterscheidet, dem militanten Aktivisten der amerikanischen gay liberation und weltweit ersten offen schwulen Stadtrat, der San Francisco in den siebziger Jahren maßgeblich den Ruf eingebracht hatte, ein Mekka der Schwulen zu sein. Mit Milk wird Wowereit häufig verglichen. Just die Unterschiede zwischen beiden sind es, die etwas über das Lebensgefühl und den Zeitgeist des neuen Berlins verraten: Das schwule Selbstbewusstsein kommt beiläufig daher, auch in bürgerlichen Milieus, fernab jeglicher politischer Radikalität und jenseits jener angestrengten Selbstdarstellung, mit der prominente Homos wie etwa Rosa von Praunheim jahrzehntelang um Aufmerksamkeit heischten.
Innerhalb kürzester Zeit steigt Wowereit zur schwulen Galionsfigur einer neuen Ära der „Normalität“ auf, dabei spielt seine Biografie kaum eine Rolle. Eher ist es die Stadt, seit Jahrzehnten die deutsche Homo-Hochburg schlechthin, in der sich seit geraumer Zeit immer mehr Schwule anschicken, öffentliche Ämter zu besetzen. Eine Tatsache, über die zwar viele Bescheid wissen, aber niemand drüber redet. Deshalb wird Wowereits Selbst-Outing alles andere als gelassen aufgenommen. Es schlägt ein wie eine Bombe.
Verkörpert der offen schwule Bürgermeister, der es mit der Trennung von Privatleben und Beruf schon nach kurzer Zeit doch nicht mehr so genau nehmen mag und seinen Lebensgefährten auf Berliner Gala-Empfängen offiziell als Mann an seiner Seite vorstellt, nun eher eine Sensation oder vielmehr eine Selbstverständlichkeit?
So einfach lässt sich die Frage nicht beantworten. Schon gleich gar nicht im Spiegel der Boulevardblätter, über die man behauptet, dass sie die Geschichte überhaupt erst ins Rollen gebracht, zumindest jedoch aktiv daran mitgewirkt haben.
Ein Blick zurück: Es ist eine Intrige in der Redaktion eines der hauptstädtischen Boulevardblätter, mit der angeblich alles angefangen hat. Dort wird noch während des Zusammenbruchs der Berliner Großen Koalition der Plan ausgeheckt, den sozialdemokratischen Spitzenkandidaten zu outen, um ihm damit Schaden zuzufügen. Einem Gerücht nach soll Wowereits Liebhaber, der eher unscheinbar daherkommt und über den Journalisten schon lange hinter vorgehaltener Hand munkeln, auf Seite Eins auf einem Foto vorgeführt werden, versehen mit der hämischen Schlagzeile: „Ist das die neue First Lady von Berlin?“ Wowereit bekommt jedoch Wind von der Sache, tritt rechtzeitig die Flucht nach vorne an, outet sich in aller Öffentlichkeit und mausert sich so zum Helden wider Willen. Was wäre ihm anderes übrig geblieben?
Pikiert gibt sich unmittelbar nach Wowereits spontanem Überraschungsbekenntnis ein Kommentator der Bild. Scheinheilig äußert der Journalist Franz Josef Wagner die Ansicht, Homosexualität von Politikern sei deren Privatsache, mit der die Bürger doch bitte nicht behelligt werden sollten – gerade so, als hätte sich das Blatt noch nie für die Privatsphäre von Prominenten interessiert. In dieselbe Kerbe schlägt Georg Gafron, berüchtigter Chefredakteur der reaktionären Hauptstadtpostille BZ, die im selben Verlag erscheint. Dieser lässt keine Zweifel daran erkennen, dass von einem selbstbewussten Homo nichts zu halten sei. Das „Thema schwuler Klaus Wowereit“ habe sich für sein Hauptstadtblatt „ein für allemal erledigt“, wie Gafron in einem piefigen Leitartikel posaunt.
Doch schnell wird klar, dass die Mehrheit der Bevölkerung den Bürgermeisterkandidaten für seine Courage bewundert. Von Empörung keine Spur. Und so kann Gafron seinen Scheuklappenkurs nicht lange durchhalten.
Nur wenige Wochen später macht
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