Grenzen der Sehnsucht
Überrascht hat die Message dort allerdings niemanden; als Homo-Metropole erfreut sich Berlin in den Vereinigten Staaten seit jeher großer Beliebtheit. Dass in der deutschen Hauptstadt vor über hundert Jahren die Schwulenbewegung von Magnus Hirschfeld aus der Taufe gehoben wurde, hat sich innerhalb der Community rund um den Globus herumgesprochen. In San Francisco wurde ihm sogar ein Feiertag gewidmet. Und, na klar, Berlin wird unermüdlich als Geburtsort von Marlene Dietrich gepriesen; auch nach ihrem Tod verkörpert sie eine der Ikonen der Szene schlechthin. In den zwanziger Jahren verkehrte sie in den ersten einschlägigen Bars in der Nähe des Nollendorfplatzes – wie etwa dem Schöneberger Eldorado. Es war dasselbe Milieu, das in den dreißiger Jahren Christopher Isherwood zu seinem homoerotisch angehauchten Roman Goodbye to Berlin und das Musical Cabaret inspirierte. An die quirlige Nachtclubtänzerin des Bühnenstücks, die in der Filmversion von Liza Minelli gespielt wird, erinnert heute noch die Schöneberger Bar Hafen mit dem Slogan „Eine Bar für Sally Bowles und ihre Freunde“.
Von Touristen wimmelt es im Umfeld des Nollendorfplatzes eigentlich das ganze Jahr, rund um die Uhr, vor allem in der Motzstraße. In warmen Sommernächten kann man aus den Menschentrauben, die sich vor dem Hafen und Tom’s Bar bilden, ein multikulturelles Stimmengewirr vernehmen. Für Furore sorgte dort einmal eine Elefantenparade, als in der ganzen Stadt die Andy-Warhol-Retrospektive mit viel Tamtam gefeiert wurde. Ein paar Tunten aus der Hafen-Crew und dem damaligen Restaurant Lukiluki schlüpften in die Haut von Warhols Busenfreundinnen Jacky O. und Liza Minelli und ritten unter tosendem Applaus auf Zirkus-Dickhäutern durch die Menge. An Abenden wie diesem weht immer noch ein Hauch des alten Eldorado durch die Motzstraße.
Besonders viele Homo-Touristen werden durch Events wie dem Christopher Street Day, dem schwul-lesbischen Stadtfest oder der Teddy-Gala während der Berliner Filmfestspiele angezogen. Berliner Marketingexperten hoffen jedoch, dass es noch mehr werden. Jedenfalls hält keine Tourismusbehörde einer anderen Stadt eine solche Fülle an Prospekten, speziellen Stadtplänen und anderem Material für Homo-Besucher bereit, das so detailliert über Hotels, Szenelokale, Veranstaltungen, ärztliche Hilfe bis hin zu historischen Rundgängen im Schöneberger Kiez informiert. Die Berliner Bank, die nach dem Mauerfall heftig von Spekulationen gebeutelt wurde, gibt sogar eine Kreditkarte für Schwule und Lesben heraus und wirbt damit auf der offiziellen Tourismus-Website. Alles in allem ein erstaunliches Engagement.
Mit Toleranz und Offenheit lässt es sich allerdings nicht alleine erklären. Es rührt auch von der Not her, in der sich die ansässige Wirtschaft seit der Wiedervereinigung befindet. In der strukturschwachen Stadt ist Tourismus mit fast 70.000 Beschäftigten die einzige Branche, die sich einigermaßen gut entwickelt. Innerhalb von zehn Jahren verdoppelte sich die Zahl der Hotelübernachtungen auf fast zwölf Millionen; zusammen mit London und Paris gehört Berlin inzwischen zu den drei meistbesuchten Städten in Europa. Ohne schwule Touristen würde der Trend bei weitem nicht so gut aussehen. Sie zu ignorieren kann sich in der Berliner Wirtschaft schon lange keiner mehr leisten. Eine Einsicht, die aus der Not geboren wurde und Kreativität freigesetzt hat. Nur in der Bevölkerung ist das Bewusstsein für die Bedeutung des Fremdenverkehrs noch nicht unbedingt verbreitet. Für viele gehört es immer noch zum guten Ton des hippen Metropolendaseins, über nervige Touris und den gigantischen Kommerz am Raumschiff Potsdamer Platz zu meckern.
„Der Tourismus ist die einzige Branche in Berlin, für die ich derzeit Wachstumspotenzial sehe – in dieser Stadt gibt es doch kaum Kapital, weder privates noch öffentliches“, sagt jedenfalls der Kapitalist Olaf Alp. Mit Sergej hat er es immerhin geschafft, ein kleines, aber anscheinend recht profitables Medienunternehmen aufzubauen. Insgesamt beschäftigt Alp mehr als zwanzig Mitarbeiter. Ihm hat Berlin Glück und Wohlstand gebracht, und trotzdem würde er im Moment niemandem empfehlen, herzuziehen. „Ich kenne so viele junge Schwule, die nach Berlin übersiedeln wollen, und ich sage ihnen: Lasst das sein, hier gibt es keine Jobs!“ Meistens kommen sie dann trotzdem, weil sie etwas mitkriegen wollen von dem überschäumenden Esprit der Stadt. „Manche sagen
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