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Grenzen der Sehnsucht

Grenzen der Sehnsucht

Titel: Grenzen der Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel Kraemer
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schon nach kurzer Zeit: ,Ich muss hier weg.’ Andere verpassen den Absprung und stürzen tief.“
    Drogen, Sex in allen Varianten, Tanz und Ekstase vom frühen Abend bis in die späten Mittagstunden – in Berlin ist das alles so verfügbar wie Weißwürstel mit Brezeln in München. Gerade als Schwuler gibt es unzählige Anreize, sich von allem anderen abzulenken und sich rasch in immer mehr Problemen zu verheddern, wenn man keinen Halt findet.
    „Ich fand Berlin Grauen erregend, unfreundlich und hässlich“, erinnert sich Alp, der in Wuppertal aufwuchs und in Aachen begann, Theologie zu studieren. Nach Berlin-West verschlug es ihn eher unfreiwillig. Es war 1988, kurz vor dem Mauerfall, sein damaliger Freund hatte sich hier an der Uni eingeschrieben. Es erging ihm wie so vielen anderen verwöhnten Neuankömmlingen aus Westdeutschland auch: gestrandet in einer bescheidenen Altbauwohnung mit Kohleheizung, Außenklo und dem düsteren Blick auf einen zugemüllten Hinterhof, irgendwo im Herzen eines ehemaligen Arbeiterbezirks wie Moabit, Wedding oder Neukölln. Dort fühlt man sich erst mal so heimisch wie in einer Kaserne am Rande der sibirischen Steppe. Geifernde Hausmeister im Jogginganzug und schnodderige Nachbarinnen, kreischende Heavy-Metal- und orientalische Folkloremusik aus der Nachbarschaft, aufdringliche Taxifahrer und unflätige Supermarktkassiererinnen drohen einem, die Nerven zu ruinieren. Straßen voller Hundekacke, vorlaute Rotzgören und mit kryptischer Polit-Graffiti beschmierte Häuserwände tun ihr Übriges.
    Viele westdeutsche Neuankömmlinge klagen heute noch in dieser Tonart, auch wenn sie gar nicht mit einer Studentenbude in einem Prollbezirk vorlieb nehmen müssen: Ein paar Journalisten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung etwa, die sich nie von ihrem Berlin-Schock erholten und sich dazu genötigt fühlten, ein paar Geschichten aus einer barbarischen Stadt als Buch zu veröffentlichen.
    Die meisten gewöhnen sich jedoch nach einer Zeit an alle Widrigkeiten; hin und wieder rücken sie auch bereitwillig einen Euro für einen der unzähligen Obdachlosen in der U-Bahn raus, die im Fünfzehnminutentakt Zeitungen wie die Motz oder den Straßenfeger anpreisen. Die Fixer und Dealer am Kottbusser Tor oder rund um die Gedächtniskirche nehmen sie bald nicht mehr wahr, ebenso wenig die Stricher aus Osteuropa an der Jebensstraße, die spätestens nach der Lektüre von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo das Bild von Berlin geprägt hatten, nein, ihr Elend gleitet schnell an ihnen ab.
    Spätestens dann, wenn der erste graue Winter vorbei ist, fallen ihnen die breiten Gehwege und die üppig wuchernden Büsche und Bäume auf, die auch jede noch so heruntergekommene Straße zum Boulevard aufwerten und den Gang an den Kiosk zum Flanieren werden lassen. Dann lernen sie, die Möglichkeiten des Vergnügens in Berlin zu schätzen. Die sind vor allem für Schwule kaum überschaubar. In den Homo-Guides zum Beispiel werden jeweils über dreißig Adressen in Prenzlauer Berg, Kreuzberg und Friedrichshain verzeichnet, gut siebzig sind es in Schöneberg: Cafés, Restaurants, Kneipen und andere Treffpunkte. Offen schwul kann man sich jedoch auch anderswo geben, eigentlich fast in jedem Lokal der Innenstadt. An dem Ort, wo man aufgewachsen ist oder zuletzt gelebt hat, war das vermutlich keine Selbstverständlichkeit.
    Heteros und Homos mischen sich in Berlin wie sonst nirgends. Wie zum Beispiel in der verrauchten Halle vom SO   36 in der Kreuzberger Oranienstraße, wenn die Drag-Queen-Moderatorinnen Kitty de Mol und Mary Carrell mit Combo vor einem Glitzervorhang beim Supersexy Kiez-Bingo die Gewinner schikanieren. Mutmaßlich heterosexuelle Zocker, die eine Runde für sich entscheiden und ihre Freude darüber kaum verbergen können, kriegen da schon mal Preise überreicht, bei den ihnen die Gesichtszüge entgleiten: einen Gutschein für die schwule Sauna etwa. Dann tobt der Saal. Introvertierte Mitmenschen, die schüchtern auf die Bühne getippelt kommen, werden mit Worten begrüßt wie: „Was bist du für ein scharfes Luder!“ Das Publikum hyperventiliert vor Vergnügen. Das ist Kreuzberg, wie es von den Berlinern am meisten geliebt wird. Manche Neu-Berliner müssen sich an diese Art von Glamour erst gewöhnen, sofern sie vor lauter Schreck nicht gleich wieder kehrtmachen.
    Kultur, Kneipen und Kontakte – in Berlin kann man davon haben, so viel man möchte. Das entschädigt alle Unannehmlichkeiten, die einem widerfahren. Der

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