Grenzen der Sehnsucht
Reiz der permanenten Veränderungen euphorisiert wie eine ständige Hormonzufuhr, und allmählich wandelt sich der Blick auf die Stadt: Er wird milder. So oder ähnlich lässt sich bei vielen die Entstehung einer Art Berliner Heimatgefühl beschreiben.
Olaf Alp sagt, dass ihm Berlin heute wesentlich besser gefällt als früher. Weg möchte er jedenfalls nicht mehr. Zu seinen persönlichen Highlights zählt inzwischen die dreieinhalbstündige Rundfahrt mit dem Dampfer quer durch das Regierungsviertel auf der Spree, vorbei an der Museumsinsel und unter der Oberbaumbrücke hindurch, die aussieht wie ein Versatzstück aus einer mittelalterlichen Spielzeuglandschaft, von dort über den Landwehrkanal durch Kreuzberg durch. Das beschauliche Leben, das hier wie ein Reklamefilm für Gauloise an einem vorbeizieht, hat nichts mit jenen Krawallbildern zu tun, die jedes Jahr zum Ersten Mai im Fernsehen gezeigt werden. Stuckverzierte Gründerzeitfassaden, Fabriken im Stil der Backsteingotik, blühendes Grün und Menschen, die auf den Terrassen der Cafés ihren Cappuccino schlürfen, vermitteln im Frühjahr die Illusion, durch Paris zu tuckern. Vom Boot aus sieht man die Stadt mit ganz anderen Augen: „Berlin vom Wasser aus ist einfach fantastisch“, sagt Alp.
So richtig wohl fühlt er sich jedoch nur in der immer noch so genannten „Neuen Mitte“, zwischen Hackeschem Markt, Rosenthaler Platz und der Jüdischen Synagoge, also ungefähr da, wo er inzwischen wohnt und arbeitet. Dort hat sich das Gesicht Berlins in den letzten Jahren am meisten verändert. Wo über Jahrzehnte hinweg tote Hose war, drängeln sich nun Besucher und Neu-Berliner zwischen Designer- und Modeläden, Literatursalons, Kaffeehäusern und Sushi-Bars, vieles davon versteckt in edel renovierten Hinterhöfen. Neben Galeristen, Devotionalienhändlern und Feinkostläden hat sich auch wieder eine jüdische Infrastruktur angesiedelt. Ambitioniertes Möbeldesign aus der Siebzigerjahre-DDR gehört genauso zu den Extravaganzen des Quartiers wie die vielen individuell entworfenen Interieurs aus brasilianischem Palisanderholz, Glasbaustein, Kuhfell-Tapeten oder auch Original-Metzgerfliesen aus den zwanziger Jahren.
„Mitte ist eine Insel der Seligen, ein Stück Hamburg mitten in Berlin.“ Mit Hamburg meint Alp hier Stilbewusstsein, Eleganz und Freundlichkeit.
Er fläzt sich auf seinem Sessel, legt entspannt einen Fuß auf dem Sofatisch ab und spielt mit dem Brieföffner in seiner Hand. „Am meisten beeindruckt mich hier, wie die Inhaber der kleinen Läden – darunter übrigens viele Schwule – um ihr Überleben kämpfen und nicht aufgeben. Auch nicht unter den widrigsten Umständen, und wenn sie dafür 16 Stunden am Stück ackern und sich ständig irgendwelche Ideen einfallen lassen müssen.“ Dieser Überlebenskampf sei typisch für das Innovative und Neue in Berlin. Er selbst hat fünf Jahre lang gekämpft und gestrampelt, bis er das Know-how dafür zusammen hatte, wie er hier etwas bewegen konnte.
Als er nach Berlin kam, arbeitete er zunächst für die Siegessäule und machte sich für sie auf die Suche nach Anzeigenkunden. Damals war sie noch eine Beilage der bundesweiten Zeitschrift magnus und richtete sich ausschließlich an Schwule, nach dem Aus für magnus hat sie sich jedoch zu einem schwul-lesbischen Gratisblatt erweitert. „Ich kann das besser“, sagte sich Alp damals. Und: „Die Ästhetik von Schwulen und Lesben passt einfach nicht zusammen.“ Was aus Sergej schließlich geworden ist, kommt jedenfalls ganz anders daher als die Sieges säule. Der Grafik und den Bildern misst Alp besondere Bedeutung bei. Auch inhaltlich dreht sich in seinen Publikationen viel um Design und Schein, um makellose Körper und hübsche Gesichter, wie es das schwule Klischee so will. Woher kommt nur diese Obsession für Oberflächen? Sie steht in so ungewöhnlichem Kontrast zu seinem Theologiestudium, in dem man sich doch mit der Tiefe und den Abgründen der menschlichen Seele auseinandersetzt.
Als ich so darüber nachforsche, fällt mir auf, dass sein Gesicht während unseres Gesprächs nur selten einen Anflug von Leidenschaft preisgibt, ob er nun über erfreuliche oder über unerfreuliche Dinge redet, als müsste er sich davor schützen, in einem unbedachten Moment zu viel Persönliches von sich zu offenbaren. Andererseits: dies hier ist ja nur ein Interview. Warum sollte er das auch tun?
Ich frage ihn, was ihn damals zu seinem Theologiestudium veranlasst hat.
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