Grenzen der Sehnsucht
Bücherregal stehen. Die Bücher der Harry Potter -Serie, die Der Herr der Ringe -Trilogieund schließlich Der kleine Hobbit. In solchen Geschichten kann Bernard stundenlang versinken, in Welten, die von Hexenmeistern und Helden beherrscht werden, die das Böse in ihre Schranken verweisen. Vielleicht ist auch das ein Teil seiner Strategie, sich die Balance zwischen immer neuen Infektionen und der Abwehr des Immunsystems plastisch vorzustellen.
„Du musst das Virus in deinem Körper akzeptieren“, sagt Bernard, „dann ist es viel einfacher. Aids ist Teil meiner Identität geworden, genau wie meine Homosexualität. Ich frage nicht, warum und woher. Ich nehme es an und mach das beste draus. Ich bin dankbar für alles, was mir passiert ist.“
Heute überlebt er dank einer neuen Generation von Medikamenten, und meistens geht es ihm gut. Er würde jedoch niemandem empfehlen, leichtfertig eine Infektion zu riskieren. Problematisch sind die Anzeigenkampagnen der Pharmaindustrie in schwulen Szenemagazinen. Sie tragen nicht dazu bei, dass die Infektionszahlen wieder abnehmen, denn sie gaukeln vor, dass man als Positiver ein ganz normales Leben führen kann, dass das Schlucken von HIV-Pillen so unproblematisch sei wie die Einnahme von Vitamin C. Davon kann keine Rede sein. Die Nebenwirkungen sind teilweise dramatisch, von schweren Depressionen über Übelkeit bis hin zu Schlaflosigkeit und regelmäßigem Erbrechen. Bernard kann davon ein Lied singen. Manchmal durchlebt er schlechte Phasen.
Berlin ist für ihn der Ort, der ihm und vielen anderen Infizierten das Überleben ermöglicht hat. Nicht wenige sind wegen der medizinischen und sozialen Infrastruktur in die Stadt gezogen, zum Teil von weit her. „In all den Jahren hab ich mich nur einmal wegen meiner HIV-Infektion schlecht behandelt gefühlt“, sagt er. Von einer Zahnarzthelferin in Kreuzberg, die ihm mit strenger Miene mitteilte, er könne von Glück reden, dass er einen Termin bekomme, aber erst abends, wenn alle anderen Patienten weg seien. Eine Ausnahme. In Berlin überrascht ihn immer wieder, wie aufgeklärt die Leute sind und wie offen man ihm begegnet. Er musste nie ein Geheimnis draus machen. Bei der Arbeit trinken Kollegen trotzdem aus demselben Becher wie er, Ende der achtziger Jahre beileibe nicht überall eine Selbstverständlichkeit, und der Betriebsrat vom KaDeWe setzt sich dafür ein, dass er als erster HIV-Positiver einen Schwerbehindertenausweis bekommt. Die Versorgung mit Medikamenten läuft gut, vor allem im Vergleich zu anderen Städten lässt es sich hier mit HIV noch relativ gut leben. Auch in der Szene solidarisiert man sich von Anfang an, das ist für ihn eine wichtige Erfahrung.
„Die Leute schauen einem in die Augen; sie interessieren sich für dich. In Paris dagegen versucht man, das zu vermeiden.“ Freilich hätten sich auch hier viele einen Großstadtpanzer zugelegt. „Aber man muss nur leicht daran kratzen, dann kommen sie dahinter vor. Dass Berliner hart und abweisend sind, ist ein dummes Vorurteil. Wenn man sich ein wenig Mühe gibt, kriegt man so viel zurück.“
Trifft das auf Berliner aus Ost und West gleichermaßen zu?
„Ja. Und überall sagen die Leute frei heraus, was sie denken, das gefällt mir.“
Neulich ging er auf eine Party in einem U-Bahntunnel am Potsdamer Platz, eines der vielen Projekte, deren Vollendung aus Geldmangel auf Eis gelegt und das anschließend zweckentfremdet wurde. Fast alle, die dort feierten, überschritten kaum die zwanzig.
„Darf ich dich was Indiskretes fragen?“, quatschte ihn einer an, der vielleicht gerade eben volljährig war. „Wie alt bist du?“
„45“, antwortete Bernard.
Da klopfte ihm der Kleine anerkennend auf die Schulter und sagte: „Find ich toll, dass du hier bist.“
Ein anderer hätte sich daraufhin vielleicht beleidigt oder zumindest verunsichert gefühlt. Bernard fand es lustig. Und typisch.
„Die Berliner sind spontaner als andere Großstädter“, sagt er, „manchmal auch rotzfrech, das gefällt mir.“
Einer seiner liebsten Orte ist das Kit Kat – benannt nach dem verruchten Nachtclub aus Christopher Isherwoods Roman. „Das ist für mich ein idealer Mikrokosmos“, sagt Bernard, der dort ab und zu vorbeischaut und nach House- und Techno-Klängen tanzt. „Junge vergnügen sich mit Alten, Homos mit Heteros, Drag Queens mit Frauen im Latexoutfit, und das ist so normal, wie es immer sein sollte. Ich weiß, die Begegnungen sind nur flüchtig. Aber warum
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