Grenzen der Sehnsucht
Kneipen heißen Knast oder Knolle, dort dominieren Ledermontur, Motorradkluft und Military-Look.
Schließlich nimmt Bernard in der Feinkostabteilung vom Kaufhaus des Westens eine Stelle an. Als Koch am Crêpe-Stand. Die Arbeit macht ihm großen Spaß. Fast alle Kollegen sind schwul: „Von 22 Köchen und Konditoren waren nur zwei hetero“, sagt er.
Knapp drei Jahre geht in seinem neuen Leben alles glatt.
Eines Samstagabends wollen Bernard und sein Freund gemeinsam in die Deutsche Oper in Charlottenburg. Wolf steht vor dem Spiegel, wirft sich in Schale. Da entdecken sie an seinem Körper mehrere schwarze Flecken. Kaposisarkome, fürchten sie. Hautkrebsgeschwüre, wie sie typisch sind für Aids. Der Arzt wird den Verdacht bestätigen. Es sind die ersten Symptome von Wolfs Erkrankung. „Ich hatte das Gefühl, dass sich auf einmal der Boden unter meinen Füßen auftut“, erinnert sich Bernard.
Dann geht alles ganz schnell. Wolf wünscht sich, noch einmal mit Bernard zu verreisen. Weit weg. Nach Indien, er will unbedingt den Taj Mahal besichtigen. Doch es zeigt sich, dass das keine gute Idee ist. Dort verschlechtert sich Wolfs Zustand rapide, die Kaposisarkome breiten sich weiter aus, er bekommt Typhus und eine Reihe opportunistischer Infektionen. Nach der Rückkehr erholt er sich nicht mehr davon. Innerhalb eines halben Jahres verstirbt Wolf an Aids.
Auch Bernard ist mit dem HI-Virus infiziert. Eigentlich hat er das schon kurz nach seiner Ankunft in Berlin erfahren. Bei einer Routineuntersuchung vor Arbeitsbeginn kam es raus.
Eine Überraschung war es für ihn nicht. Da er sich noch gesund fühlte und es ohnehin kein Gegenmittel gab, ignorierte er seine Angst die ganze Zeit über. Wie auch Wolf, der ebenfalls von seiner Infektion gewusst und seine Furcht verdrängt hatte.
Zwei Jahre nach Wolfs Tod erkrankt Bernard zum ersten Mal. Es ist eine Tuberkulose der Lymphknoten, die neun Monate lang behandelt werden muss. In dieser Zeit leidet er unter hohem Fieber. Indes verbreiten Wissenschaftler und Ärzte immer neue Horrormeldungen. Für Aids-Kranke gibt es nicht den geringsten Hoffnungsschimmer. Doch nach der Tuberkulose hat Bernard erst mal ein paar Jahre Ruhe. Die Arbeit nimmt er nicht wieder auf, von nun an lebt er von Sozialhilfe.
„Seit bald 18 Jahren weiß ich nun, dass ich HIV-positiv bin“, sagt Bernard, der Longtime-Survivor. Heute bringt er mit 62 Kilo fast wieder so viel auf die Waage wie früher. Durch die Therapie hatte er sein gesamtes Körperfett verloren; überall sind die Muskeln hervorgetreten. Ein Berliner Arzt war davon so beeindruckt, dass er eine Fotoaufnahme wollte, für die Medizinstudenten seiner Vorlesung.
An seinem Tiefpunkt wog Bernard nur noch 50 Kilo. Mindestens zweimal war er dem Tod sehr nah, 1996, als sich die Blutwerte dramatisch verschlechterten, und 1998, als er eine Lungenentzündung bekam. Dazu noch einen Augeninfekt, eine Nervenentzündung und Mykobakterien. Zu dieser Zeit war er lange im Krankenhaus. Und wenn nicht die Pillen für eine neue Kombinationstherapie auf den Markt gekommen wären, hätte er auf keinen Fall überlebt.
Es grenzt ohnehin an ein Wunder, dass er so lange durchgehalten hat. Bernard schätzt, dass er ungefähr 150 Freunde und Bekannte zu Grabe getragen hat. Eine ungeheure Zahl. Er zeigt mir sein Adressbuch, in dem Dutzende von Adressen durchgestrichen sind. „Irgendwann bin ich dazu übergegangen, mir nur noch Telefonnummern und Anschriften mit Bleistift aufzuschreiben“, sagt er, „ich konnte die einzelnen Seiten nicht rausnehmen, und es war immer so deprimierend, ständig an die vielen Toten erinnert zu werden.“
Was hat ihm eigentlich Kraft gegeben im Kampf gegen Aids?
„Ich hab immer versucht, mir ein Bild von der Krankheit zu machen“, sagt er. „Die ganzen Zahlen und Werte, die mir die Ärzte bescheinigt haben, erschienen mir so abstrakt.“
Doch wie verbildlicht man die Schlacht zwischen Viren und Antikörpern, die irgendwo im Immunsystem des eigenen Körpers stattfindet? Und die so komplex verläuft, mit so vielen Höhe- und Tiefpunkten?
Ein Besuch im Auguste-Viktoria-Krankenhaus im Jahr 1998. Bernard lag mit hohem Fieber im Bett und erwachte gerade aus dem Schlaf. „Ich hab von bösen Kobolden geträumt, die einen Schatz verstecken und gegen Zwerge kämpfen“, sagte er damals und fügte hinzu: „Ich bin mir sicher, dass die Zwerge über die Kobolde siegen werden.“ Ich musste an die vielen Fantasy-Romane denken, die in seinem
Weitere Kostenlose Bücher