Grenzen der Sehnsucht
Gruppenbild ohne Dame sind 25 junge, strahlende Männer abgebildet. Auch Bernard ist unter ihnen; es wurde 1983 auf einer schwulen Geburtstagsparty in Paris aufgenommen. Nur zwei Jahre, bevor Bernard seine Koffer packte und nach Berlin aufbrach.
Es ist die Zeit, als alle noch unbekümmert und ohne Kondom in der Gegend herumvögeln und nach all den Jahren der Repression den Heteros eine entfesseltere, eine bessere Sexualität entgegensetzen wollen. Indes sind die ersten schwulen Männer in den Vereinigten Staaten an einer rätselhaften Seuche erkrankt. Die Mediziner sind dabei, so viel wie möglich über den Erreger ausfindig zu machen, der höchstwahrscheinlich dafür verantwortlich ist: das HI-Virus. Es stellt sich heraus, das es tatsächlich die Immunschwäche Aids auslöst, manchmal erst viele Jahre nach der Infektion. Aber davon will man sich in der Szene nicht einschüchtern lassen.
Viele Jahre später reist Bernard mal wieder von Berlin nach Paris und trifft zufällig in einer Kneipe das damalige Geburtstagskind von dem Foto. Er sagt zu Bernard: „Du und ich, wir sind die einzigen Überlebenden auf dem Bild von damals.“
Das war einer der Momente, in denen ihn das Entsetzen von früher wieder einholt. Die Panik, die vor seinem Abschied von Paris sein Leben überschattet hatte. Unter den ersten Infizierten waren Freunde von ihm. Niemand wusste, wann bei ihnen die Krankheit ausbrechen würde, nächste Woche oder in 15 Jahren. In den Medien schrillten pausenlos die Alarmglocken, plötzlich waren Zwangsmaßnahmen und sogar die Internierung von Schwulen im Gespräch. Sex war untrennbar mit Ansteckung, Leiden, Siechtum und Tod verbunden. Damals sagte Disco-Queen Donna Summer angeblich: ,Aids ist die Strafe Gottes für die Laster der Schwulen.’ Ausgerechnet sie, die in der Szene vergöttert wurde.
Da sich Bernard früher bereits Tripper und Syphilis eingefangen hatte, zog er den Schluss, sich wohl ebenfalls mit dem HI-Virus infiziert zu haben. Er wagte jedoch nicht, den Test zu machen.
Dann musste er zufällig nach West-Berlin, um persönlich ein Gutachten zu überbringen, das er als freier Mitarbeiter für Fiat angefertigt hatte. Das war im Sommer 1985, am 14. Juli. Am Tag der französischen Unabhängigkeit. Die eingemauerte Millionenstadt gefiel ihm spontan. Bernard sagt: „Es war Liebe auf den ersten Blick.“
Und so beschließt er, ein paar Monate zu bleiben. Auch wenn er kein Wort deutsch spricht. Oder eigentlich gerade deshalb.
Auf einmal sind alle Sorgen ganz weit weg. Die Welt scheint endlich wieder in Ordnung zu sein. Er weiß nicht einmal, was das Wort „Aids“ in den Schlagzeilen der Zeitungen bedeutet, auf französisch heißt es „Sida“. Die Berliner erscheinen ihm nett und aufgeschlossen. Für die Oper, die er so liebt, muss man nur ein Bruchteil dessen berappen, was es einen in Paris kostet. Überall ist es grün und beschaulich, man kann Fahrrad mitten in der Stadt fahren, und was man hier einen „Platz“ nennt, würde man in der französischen Hauptstadt schon als einen „Park“ bezeichnen. Fast in jedem Café lässt sich ausgiebig und bis um 18 Uhr frühstücken. Selbst innerhalb der Mauer gibt es Wälder und Seen, die man per U- und S-Bahn erreichen kann. Und so entscheidet er, noch ein bisschen länger in Berlin zu bleiben. Und noch länger. Bis er Wolf kennen lernt. Und dann möchte er gar nicht mehr zurück.
Wolf, der in der Kulturverwaltung des Berliner Senats arbeitet, ist seine große Liebe. Einmal feiert man dort eine Art Betriebsfest. Bernard wird von Wolf bei den Kollegen offiziell als sein Geliebter vorgestellt.
„Das fand ich unglaublich, aus Paris kannte ich eine so offene Umgehensweise mit dem Schwulsein nicht“, erinnert sich Bernard, „dort muss man auch heute noch ein Schauspieler sein, wenn man Karriere machen will.“
Ist die Akzeptanz mit dem Pariser Bürgermeister, von dem alle wissen, dass er schwul ist, etwa nicht größer geworden?
„Ein Freund von mir arbeitet bei Johnson Johnson“, sagt Bernard, „er bringt immer noch eine Frau mit, wenn in der Firma etwas gefeiert wird, und behauptet, das sei seine Geliebte. Das ist furchtbar.“
Mit Wolf erlebt Bernard einen wunderbaren Start in Berlin. Der fährt mit ihm ans Strandbad Wannsee und ins Open-Air-Kino, stellt ihm seine Berliner Verwandtschaft vor, geht mit ihm ins Theater, zu Ausstellungen, in die Szene. Es ist das Umfeld der kerligen Schwulen mit Schnauzbärten, in dem sie sich bewegen. Die
Weitere Kostenlose Bücher