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Grenzen der Sehnsucht

Grenzen der Sehnsucht

Titel: Grenzen der Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel Kraemer
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jemand übel nimmt. Und wenn, dann sagt Joshua einfach: „Ich war das neunte von elf Kindern; ich brauche Aufmerksamkeit.“ Dabei ist ihm auch etwas Typisches aus seinem Heimatland zueigen, das zur Berliner Ruppigkeit besonders kontrastiert: Er legt großen Wert auf britische Höflichkeit, obwohl er sie selbst manchmal missen lässt.
    Was er in Berlin vorhatte, vertraute er mir erst Wochen nach unserem ersten Treffen an. Es ist ein aberwitziges Abenteuer, auf das er sich einlässt: Ankunft in einem Land, dessen Sprache er nicht spricht, ohne eine Menschenseele zu kennen, mit nicht mehr als ein paar Scheinen im Portemonnaie und obendrein auch noch ohne Aussicht auf ein regelmäßiges Einkommen. Er hat nur eine dubiose Adresse in der Tasche, wo er während der ersten Tage Unterschlupf findet. Und eine fixe Idee im Kopf: als selbständiger Callboy möglichst viel Geld zu verdienen. Und vielleicht auch ein bisschen berühmt werden dabei. In der „Stadt des Sexes“, wie ihm Berlin in schillernden Worten beschrieben wurde. Und zwar von einem, der angeblich auf diese Weise zu Wohlstand gekommen war. The City of Sex. Das hörte sich verlockend an. Dieses Etikett hat Joshua irgendwie auch heute noch vor sich, obwohl es für ihn längst nicht mehr diesen glamourösen Beiklang von damals hat: Berlin, das war für ihn schon zum Synonym für Laster, Lust und Nachtleben geworden, noch bevor er sich mit eigenen Augen ein Bild machen konnte. Eine Stadt für Sally Bowles und ihre Freunde und überhaupt alle, die nicht so zugeknöpft oder sexuell auf eine bestimmte Richtung festgelegt sind.
    Er war wie besessen von dem Gedanken, sich einen Erfahrungsschatz als Sexarbeiter zuzulegen – nachdem er sich in Athen und Ankara mehrere Jahre als Bauarbeiter über Wasser gehalten hatte.
    Bald fand sich Joshua in 40 düsteren, etwas heruntergekommenen Quadratmetern Prenzlauer Berg wieder. Sie setzten sich zusammen aus einem Schlafzimmer, der Küche und einer Toilette in halbwegs passablem Zustand.
    Immerhin.
    „Ich habe schnell gemerkt, dass die Arbeit nicht so einfach war, wie ich mir das ausgemalt hatte“, gesteht sich Joshua heute ein. Das Geld wurde schnell knapp, weil er es erst mal für Kleinanzeigen in den Stadtmagazinen investieren musste. Zunächst kamen nur unregelmäßig Anrufe. An manchen Tagen klingelt das Handy zehnmal am Tag. Ein paar Leute wollen nur Telefonsex oder einen blöden Spruch ablassen. Einmal verlangt eine verbitterte Frau von ihm, er solle ihren Ehemann vergewaltigen. Dann wiederum verstummt das Telefon für eine Woche. Hauptsächlich gegen Monatsende, wenn den Leuten das Geld ausgeht. Mit Anfang dreißig ist Joshua einem Teil seines Zielpublikums auch schon zu alt.
    Dennoch kommt das Business ins Rollen, ganz langsam und Schritt für Schritt. Ein typisches Kundenprofil kann Joshua nicht ausmachen. „Jeder Klient war anders“, sagt er, „jeder hatte andere Sehnsüchte, andere Macken“. Aber die meisten seien zufrieden gewesen mit ihm, der seinen Job doch so ernst nahm und ihn wie eine stinknormale Dienstleistung feilbot. Er erntet dafür viel Anerkennung, denn gewohnt sind die Kunden das nicht. Den meisten Strichern – viele davon drogenabhängig, HIV-infiziert und noch im Teenageralter – sind die Bedürfnisse ihrer Freier egal; sie ekeln sich häufig sogar vor ihnen.
    „Ich hatte gegenüber allen Klienten Respekt“, versichert mir Joshua und zieht seine Augenbrauen hoch – eine Mimik, die seiner Überzeugung Nachdruck verleihen soll. Mit dieser Einstellung habe er es geschafft, sich eine Stammkundschaft aufzubauen, die ihm das Überleben sicherte.
    Dazu gehörte von Anfang an der 70-jährige „Mr. Schulz“, wie er ihn nennt. Er war Witwer, seine Frau starb wenige Jahre zuvor. Von seiner Homosexualität wusste er schon seit Jahrzehnten; da war er aber schon längst verheiratet und hatte Kinder. Trotz allem hat Schulz seine Frau geliebt, und sein Familienleben wollte er auf keinen Fall aufs Spiel setzen. Also beschloss er, auf das Ausleben seines Schwulseins zu verzichten. Aus Liebe, betonte er immer wieder. Erst nach dem Tod seiner Frau fing er an, mit Männern zu experimentieren. Ein Callboy sollte es sein. Der erste war Joshua.
    „Ich fand die Geschichte sehr romantisch“, sagt Joshua, als er sich daran erinnert. Es ging dabei nicht nur um Sex. Einmal begleitet er Mr. Schulz zu einem Tina-Turner-Konzert in der Waldbühne; ein andermal planen sie einen gemeinsamen Urlaub in Griechenland. Aus dem

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