Grenzen der Sehnsucht
nicht? Ich fühle mich jedenfalls gut dabei.“
Musikalischer Amoklauf:
Experimentierlabor der schwulen Subkultur
Der Kit Kat -Clubaus Cabaret gilt als Synonym für das Nachtleben im Berlin der zwanziger Jahre, das in unzähligen Büchern in den schillerndsten Farben beschrieben und manchmal auch verklärt wird. Nirgendwo sonst auf der Welt, so heißt es beschwörend, wurde so viel Neues ausprobiert wie auf den Berliner Bühnen.
Wer sich jenseits des Mainstreams auf die Suche macht, entdeckt die Lust an kulturellen Experimenten auch heute noch. Wie zum Beispiel an diesem Abend im Quasimodo.
Auf der Bühne steht ein blasser, blonder Mann von feingliedriger Gestalt in einem schlichten Anzug. Im ersten Moment wirkt er unscheinbar und schüchtern, seine Gesichtszüge sind weich und zurückhaltend. Wie er die Schultern nach vorne hängen lässt und seine schmalen Lippen zusammenpresst, erweckt er den Eindruck, am liebsten dem Scheinwerferlicht entfliehen zu wollen. Eine Rampensau stellt man sich anders vor.
Zu Beginn seiner Show schreitet Michael Schiefel wie ein Storch in Richtung Publikum, zuckt den Kopf vor und zurück wie ein Huhn, macht ungelenke, aber weit ausholende Bewegungen mit den Armen. Dann fängt er an zu singen, begleitet von einer Gitarre, einem Klavier und elektronischen Gerätschaften.
„I got bad news, baby“, stimmt er einen Blues an, „and you ‘re the first to know.“
Plötzlich und unerwartet lässt er exzessiv seine Miene spielen, verzieht den Mund und sieht für Augenblicke so hysterisch aus wie eine Figur aus einem Zeichentrickfilm.
„I discovered this morning that my wig is about to blow.“
Auch wenn er seine Mimik überdreht, auch wenn im Text von einer explodierenden Perücke die Rede ist – mit ironisierendem Tuntenvariete, wie man es in der Szene aus unzähligen Darbietungen kennt, hat all dies nichts zu tun. Am wenigsten mit dem Trash, der Ades Zabel mit den berüchtigten Teufelsbergern im Schwuz oder in der Berliner Kabarettanstalt zu Ruhm und Erfolg verholfen hat. Nein – um eine Parodie handelt es sich hier keineswegs.
Und obgleich an der Ernsthaftigkeit seiner Aufführung keinen Moment lang Zweifel aufkommen, klingt die Musik von Schiefel schräg und bizarr, jedenfalls Lichtjahre entfernt vom gefälligen und immer gleichen Sound schwuler Evergreens zwischen „Je ne regrette rien“ und „I Will Survive“, die auf schwulen Veranstaltungen in allen möglichen Versionen vorgetragen werden und sicherlich eines Tages aus Überdruss einen Amoklauf auslösen. So ähnlich wie in dem Comic von Ralf König, in dem der Besucher einer Drag-Queen-Show auf die Bühne stürmt, den Marlene-Dietrich-Imitator würgt und unter Wutgeschrei bekundet, keine schlechten Playbacks mehr ertragen zu können.
Nein, Schiefels Klangwelt ist in jeder Hinsicht überraschend und völlig szenefremd, obwohl er eigentlich um die Ecke vom Nollendorfplatz wohnt und somit mittendrin lebt im schwulen Geschehen.
Das Quasimodo, in dem er an diesem Abend auftritt, wird in keinem Homo-Reiseführer gelistet. Das muffige, verrauchte Kellergewölbe ist nichts anderes als der renommierteste Jazzclub der Stadt, in dem schon Größen wie Bill Evans oder Maceo Parker aufgetreten sind. Nicht unbedingt ein Ort, dessen musikalischer Schwerpunkt dem schwulen Stereotyp entgegenkommt.
Dennoch verweist Schiefel in seiner Musik unmissverständlich auf sein Schwulsein. Sein drittes Album, das er mit dieser Record-Release-Party vorstellt, nennt er schlicht Gay. Ein bewusstes Spiel mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs. „Gay heißt eben nicht nur schwul, sondern auch fröhlich“, sagt er später im Gespräch, „es hat zu tun mit dem dummen Klischee vom fröhlichen Schwulen.“ Und darum versucht er, es in allen Variationen zu brechen.
Romantische Balladen, die von Liebeskummer erzählen, verfremdet er mit synthetischen Klängen. Schiefel nimmt vor dem Publikum einen Refrain auf ein Tonband auf, um es im nächsten Moment abzuspielen und sich mit seiner eigenen Stimme ein Duett zu liefern. Plötzlich stürzt er beim Singen in die Tiefe, um ein paar Takte später zwei Oktaven nach oben zu schnellen. Dann wiederum nutzt er virtuos seinen Mund, um Geräusche mit der Zunge und den Lippen zu fabrizieren, die Stimmbänder werden zum Beiwerk. Er imitiert eine E-Gitarre oder eine Posaune und versetzt das Publikum ins Staunen. Auch wenn manchen Schwulen, die aus Neugier gekommen sind, deutlich Skepsis in die Gesichter
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