Grenzen der Sehnsucht
geschrieben steht. Er wird es schwer haben, sich in der schwulen Szene durchzusetzen, wo man experimentelle Melodik eher misstrauisch zur Kenntnis nimmt.
„Give me a reason to be a woman“, beschwört Schiefel mit schmachtender Leidenschaft in seiner eigenwilligen Interpretation des Songs „Glory Box“ von Portishead. „Don‘t you stop being a man.“
Auch im Jazz-Milieu gilt Schiefels Musik als eine Provokation. „Mit traditionellen Klangvorstellungen von männlichen Jazzsängern bricht das radikal“, schreibt der Tagesspiegel an diesem Tag in einer ehrfürchtigen Empfehlung für das Event und widmet Schiefel mehr als eine halbe Zeitungsseite. Der 33-jährige Berliner sei „vielleicht der wichtigste deutsche Jazzsänger.“
Und die Berliner Morgenpost hat schon vor Jahren prophezeit: A star is born.
Entsprechend haben ihn auch schon die FAZ, der Spiegel und das ZDF gewürdigt. In der Fachwelt vergleicht man ihn immer wieder mit Bobby McFerrin, und so ist er inzwischen zum Professor für Jazzgesang an der Musikhochschule in Weimar aufgestiegen – keine geringe Anerkennung. Dabei macht er nicht einen Moment lang den Eindruck, dass ihm der Erfolg zu Kopf gestiegen wäre. Schon gleich gar nicht, wie er während der Pause unbeholfen im Publikum herumstakst und E-Mail-Adressen für seinen Verteiler sammelt. Vielleicht hat die Bescheidenheit damit zu tun, dass Michael Schiefel gerade von einem Gefühl beherrscht wird, dem jeglicher Anflug von Eitelkeit abträglich ist. Er hat sich nämlich frisch verliebt, wie er dem Reporter einer Tageszeitung erzählt.
Was könnte inspirierender sein als das?
Leben mit der Pretty Woman-Illusion.
Berlin, Stadt der Callboys
Am Nachbartisch knutschen zwei junge Männer hemmungslos. Die Schmatzgeräusche beeinträchtigen ein wenig die Konzentration meines Gegenübers. Ohnehin wirkt er ein wenig nervös. Immer wenn jemand im Schall Rauch zur Tür hereinschneit, unterbricht er seine Aufmerksamkeit für ein paar Sekunden und dreht den Kopf in Richtung Eingang. Jeder Neuankömmling muss erst inspiziert werden, bevor die Unterhaltung weitergehen kann.
„Weißt du, ich hab so lange nicht an Sex gedacht“, sagt er, „in einer Stadt wie Brighton gibt es dazu kaum einen Anreiz. Und kaum dass ich wieder hier zu Besuch bin, schnellt mein Hormonspiegel nach oben. Das muss an der Atmosphäre liegen. Ich habe das Gefühl, dass die Berliner ständig auf Anmache aus sind.“
Zumindest scheint er für die geringsten Signale erotischer Sehnsüchte empfänglich zu sein wie eine Art Seismograph. Immer noch. Eigentlich kein Wunder, schließlich war das drei Jahre lang sein Job. Eine Beschäftigung, die ihm eine völlig unbekannte Perspektive Berlins eröffnete. Berlin, wie es nicht jeder kennt. Hier um die Ecke hat er gewohnt und gearbeitet, nur wenige Meter entfernt von der Schönhauser Allee, der bekanntesten Straße vom Prenzlauer Berg.
Ein paar Jahre seines Lebens verbrachte er hier, dann brach er seine Zelte ab. Auch das ist typisch für Berlin: junge Leute, die um die Welt ziehen und hier eine Weile hängen bleiben. Früher hat man sie Weltenbummler genannt. Sie sind auf den ersten Blick von der Stadt fasziniert, sammeln Erfahrungen und hinterlassen ein paar Spuren, bevor sie irgendwann wieder verschwinden.
Ich erinnere mich an jenen Abend im Hafen, als wir uns kennen lernten. Joshua war gerade erst ein paar Tage in der Stadt, im Oktober 1998. Schon damals fiel er mir auf durch sein paranoides Gezappel. Immer wieder zückte er sein Handy und hielt dabei nervös in alle Richtungen Ausschau. Was war das für ein Spiel? Ein zwielichtiger Typ, dachte ich. Nie und nimmer hätte ich ihn für einen Callboy gehalten, eher schon für einen Dealer, der auch mal handgreiflich wird, wenn ihm einer blöd kommt. Doch mit Drogen hatte er nichts am Hut, wie sich herausstellte. Nachdem er angefangen hatte, sich zu entspannen und an seinem Drink zu nippen, schielten wir uns eine Weile misstrauisch von der Seite an. Keiner sagte ein Wort. Dann fragte er mich in rüdem Ton und auf Englisch, ob ich taubstumm wäre. Ich blaffte etwas Ähnliches zurück, so kamen wir damals ins Gespräch. Wie soll man Joshua beschreiben? Vor allem diese riesigen Hände stechen einem sofort ins Auge. Das Hemd immer mindestens drei Knöpfe weit offen. Er ist Mulatte und von Natur aus muskulös. Unerschrockene, maskuline Erscheinung. Nur zu gerne steht er im Mittelpunkt des Geschehens. Selten habe ich erlebt, dass ihm das
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