Grenzen der Sehnsucht
verschwunden.
„Das war eine schöne Zeit hier. Vor allem mochte ich die Cafés rund um den Zionskirchplatz. Für mich war es ein Luxus, stundenlang dort rumzuhängen, mit Leuten zu plaudern und in Büchern zu schmökern. In England sind die Leute hektischer. Aber ich hatte keine Zukunft, was sollte ich hier machen? Die deutsche Sprache ist mir einfach zu schwierig.“
Manchmal hilft es nicht einmal, ein Wörterbuch in den Supermarkt mitzuschleppen. Zum Beispiel, wenn man die Bedeutung des Wortes „Schabefleisch“ nicht kennt. So nennt man nämlich in Berlin mageres Hackfleisch vom Rind. Joshua suchte einmal im Langenscheidt danach, fand aber nur das Wort „Schabe“.
Da versuchte er zu kombinieren – und wunderte sich sehr über die Deutschen. Und das gewiss nicht zum ersten Mal.
Eldorado für Sexsüchtige:
Was man schon immer über Vampirismus wissen wollte
Auch Siegfried kam einst nach Berlin, weil ihm zu Ohren gekommen war, dass es hier rund um die Uhr einen Markt für schwulen Sex gibt. Den größten in Deutschland. Und obendrein noch einen, für den man nicht unbedingt bezahlen muss.
Siegfried ist Beamter, sieht aber gar nicht so aus. Er gibt sich auch große Mühe, nicht so zu reden wie ein Beamter. Das will ihm aber nicht immer gelingen. Jedenfalls quasselt er am laufenden Band. Nicht so schnodderig und schnell wie die typische Berliner Schnauze, sondern bedächtig, ohne erkennbaren Akzent und in aller Deutlichkeit. Wir hatten uns verabredet, um über seine Sexsucht zu reden, die ihn auf direktem Weg in die Katastrophe schlittern ließ. So drastisch hatte er mir seine Situation in aller Kürze am Telefon beschrieben.
„Auf die Dienste von Callboys konnte ich bislang ver-zichten. Das hat mich wahrscheinlich vor dem Ruin bewahrt. Ich weiß von einem, der wegen seiner Sexsucht zum Schluss den Offenbarungseid leisten musste. Das hatte aber nicht nur mit Strichern zu tun, der hat auch Unsummen für Telefonsex ausgegeben. 0190-Nummern und so. Nicht meine Sache. Da hab ich noch vergleichsweise Glück gehabt. Allerdings kann ich auch froh sein, für meine 52 Jahre noch ziemlich gut auszusehen. Viele schätzen mich deutlich jünger, so auf Mitte dreißig. Deswegen hab ich auch bei Jüngeren noch gute Chancen. Auf Männer in meinem Alter kann ich nämlich überhaupt nicht.“
Er zückt eine Ausweiskarte, als würde ich ihm sein wahres Alter sonst nicht abnehmen, und steckt sie schnell wieder in seine Brieftasche. Dann lehnt er sich zurück, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und schaut mich mit erwartungsvoller Miene an – als müsste ich jetzt eine verblüffte Reaktion zu erkennen geben.
Von seinem Wohnzimmer blickt man auf den Wilmersdorfer Teil der Motzstraße, die eigentlich eine ganz merkwürdige Straße ist. Am Nollendorfplatz beginnt sie als schwule Magistrale der Schöneberger Community und endet nach etwa anderthalb Kilometern an diesem Ende in einer eher biederen Umgebung. Von urbaner Hektik, Halbwelt oder Umtriebigkeit ist hier kaum etwas zu spüren. Hier halten gepflegte Vorgärten eine Distanz zum Bürgersteig. In manchen Kneipen stehen Porzellanfiguren und selbstgetöpferte Vasen auf dem Fensterbrett. Neugierige Blicke werden von blumigen Gardinen abgeblockt. Wagt man dennoch, sie zu betreten, erscheinen einem SeniorenCafés wie das Möhring oder das frühere Kranzler dagegen wie hippe Szenetreffpunkte.
Nein, mit jener Sorte von Leuten mittleren und hohen Alters, die es sich hier auf eine Weise gemütlich gemacht haben, die von den meisten Jüngeren lauthals als spießig verspottet wird, will auch Siegfried nichts gemein haben. Das wird er im Verlauf unseres Gesprächs mehrere Male hervorheben, und im Grunde signalisiert er das auch durch sein Outfit: Er trägt Nike-Schuhe, ein neonfarbenes Stretch-Shirt und ein flott gestutztes Ziegenbärtchen. Der Kaugummi in seinem Mund tut ein Übriges. Auch die Wohnungseinrichtung strahlt die Botschaft neckischer Jugendlichkeit aus. Zum Beispiel das leuchtend grüne Sofa, auf dem wir sitzen. Eigentlich ist es eher eine Art hypermodernes Kanapee. Die Armlehnen rollen sich mit neobarockem Schwung nach außen, die Rückenlehne ist asymmetrisch abgerundet. Dafür hat er in der Abteilung „Junges Wohnen“ bei Möbel-Höffner bestimmt viel Geld hingeblättert.
Da sitzt er mir nun gegenüber, mit angeschwollenem Bizeps und Brustmuskeln, die sich unter dem eng anliegenden Hemd abzeichnen und die er gerade noch im Sportstudio gestählt hat. Eigentlich
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