Grenzen der Sehnsucht
macht er einen recht sympathischen Eindruck auf mich – wenn nur das erwartungsvolle, angestrengte Kokettieren mit seinem Alter und seiner Attraktivität nicht wäre, das Siegfried über so viele unterschiedliche Kanäle vermittelt.
Das ist ein Phänomen, das ich bei vielen schwulen Männern reiferen Alters erlebe, die zu viel über Alter und Schönheit reden: Der Blick bleibt an ihnen hängen, weil sie im ersten Moment interessant erscheinen. Weil man ihnen ansieht, dass sie etwas zu sagen haben. Auf den zweiten Blick stellt sich heraus, dass sie nicht zu ihrem Alter stehen, es mit betont jugendlicher Attitüde überspielen wollen. Schnell wird klar, dass sie nur wenig Achtung für andere Männer ihrer Generation übrig haben, und dann verheddern sie sich irgendwann beim Schummeln mit den Jahreszahlen. Spätestens dann fällt einem Gustav Aschenbach ein, die tragische Hauptfigur aus Tod in Venedig, die sich aus purer Verzweiflung die Wangen schminkt und die Haare färben lässt – und schon ist jede Unbefangenheit dahin.
„Mir selbst fiel das neulich bei einem Klassentreffen auf, fährt Siegfried fort. „Die meisten heterosexuellen Männer in meinem Alter achten weder auf ihre Ernährung, noch treiben sie Sport. Sie hängen den ganzen Abend vor dem Fernseher rum, besonders die Verheirateten. Einige von ihnen sind völlig aufgeschwemmt, mit so richtigen Rindernacken. Dagegen sehe ich fünfzehn Jahre jünger aus.“
Siegfried entstammt einer kleinen Gemeinde aus dem Norden Deutschlands. Er wurde Beamter in Kiel, bevor er sich Ende der achtziger Jahre ins entlegene West-Berlin versetzen ließ. West-Berlin: Das war ein Magnet nicht nur für Bundeswehrflüchtlinge aus der ganzen Bundesrepublik, die aufgrund des besonderen Status der Stadt nicht zum Wehrdienst einberufen werden konnten, sondern auch für Schwule, die hier die größte Homo-Subkultur des Landes vorfanden.
„Zu der Zeit war es noch einfach, in dem völlig aufgeblähten Beamtenapparat der Stadt unterzukommen. Die Zuschüsse aus dem Westen flossen noch in Strömen. Niemand hätte das vor dem Mauerfall in Frage gestellt. Es musste ja einen Ausgleich geben, nachdem Lufthansa, Siemens, die großen Banken und alles, was ursprünglich in Berlin angesiedelt war, in den Westen verlagert worden war. Deswegen hat die Berliner Verwaltung für sich selbst unentwegt neue Aufgabenbereiche geschaffen, um den Mangel an hochwertigen Jobs zu kompensieren.“
Siegfried profitierte davon, obgleich er in einer Behörde eine Stellung bekam, für die er eindeutig überqualifiziert war. Aber das war für ihn nicht von Bedeutung. Wichtig war ihm, sein Schwulsein ausleben zu können, das er gerade erst für sich entdeckt hatte. Kurz darauf fiel die Mauer, und mit der Zusammenlegung der Verwaltungen in Ost und West begann bald das „Hauen und Stechen“ um Positionen und Ämter, wie er sagt. Daran wollte er nicht teilhaben.
Und weil ihm sein Schwulsein erst mit Ende dreißig so richtig bewusst wurde, hatte er ohnehin das Gefühl, eine Menge nachholen zu müssen. Zuviel in zu kurzer Zeit, wie er heute bedauert. In Berlin gab es genügend Zugezogene, die wie er das Gefühl hatten, ihr asexuelles Vorleben umso ausschweifender kompensieren zu müssen.
Allmählich tastete er sich in die schwule Kneipenszene vor, die ihm aufgrund ihrer Ghettomentalität aber nicht so recht behagte. Mehr Gefallen fand er an den gemischten Clubs, die sich nun überall im Osten in alten Fabrikgebäu-den einnisteten: das Planet am Spreeufer zum Beispiel oder die verwegene und halblegale Bar inmitten der Ruine eines alten Geschäftshauses, die sich El Sabor de la Favelas nannte. „Dort hab ich an den Wochenenden bis zum frühen Morgen getanzt, hab Heteros und Homos gleichermaßen kennen gelernt. Irgendwann ist sogar mehr aus einer Bekanntschaft geworden, er war zehn Jahre jünger als ich. Mit dem ging das eine Weile gut, richtig gut sogar. Es sah irgendwann sogar danach aus, als würde das die Liebe meines Lebens werden. Aber dann“, Siegfried schnappt kurz nach Luft, „dann wurde der Freund für mich von heute auf morgen uninteressant. Dabei lief alles so harmonisch.“
Er macht eine bedeutungsvolle Pause.
„Der Grund war, weil er eine bestimmte Altersgrenze überschritten hat. Männer jenseits der dreißig haben für mich keinen Reiz mehr. Manchmal auch schon vorher, manchmal später, aber nicht wegen irgendwelchen Falten oder grauen Haaren“, sagt Siegfried. Er runzelt die Stirn. „Ab
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