Grenzen der Sehnsucht
einem bestimmten Alter verlieren die meisten den gewissen Gesichtsausdruck.“
Was denn für einen Gesichtsausdruck?
Siegried ringt um die richtige Wortwahl. „Ein Blick, der von Naivität und Unerfahrenheit zeugt. Und genau den brauche ich als sexuellen Stimulus.“
Das klingt ein bisschen nach Machtspielchen und dem Wunsch nach Überlegenheit. Hängt es vielleicht damit zusammen?
„Nein, nein, das ist nichts dergleichen“, wehrt Siegfried ab. „Ich will niemanden beherrschen, das hat allein mit Kribbeln im Bauch zu tun. So richtig verstehe ich es ja selbst nicht.“
Er macht eine kurze Pause.
„Nachdem mit meiner Beziehung Schluss war, habe ich es mit anonymen Sexkontakten auf öffentlichen Toiletten und Parks versucht. Das ist mir dann allerdings schnell zu anstrengend geworden, weil ich beim stundenlangen Cruising nicht immer auf jemanden traf, der mir zusagte. Dann habe ich es mit Kontaktanzeigen in Stadtmagazinen probiert, wo ich meine Vorlieben exakt präzisieren konnte. Das erwies sich als sehr viel effektiver“, erklärt Siegfried und klingt dabei auf einmal, als würde er von einem Verwaltungsakt reden.
„Allerdings nimmt auch das Dating sehr viel Zeit in Anspruch. Aber da ich mich bei der Arbeit nicht ausgelastet fühlte, fing ich damit an, während der Dienstzeit Kontakte und Dates einzufädeln. Die Zahl der Partner und der Verabredungen häuften sich, und nach einer Weile merkte ich, dass ich jeden Tag einmal Sex brauche. Wenn ich das nicht bekam, habe ich so eine innere Leere verspürt, die mich einfach nicht zur Ruhe kommen ließ. Ich konnte nachts nicht einschlafen. Da half es auch nichts, wenn ich mir einen runterholte.“
Siegfried zieht ein Album aus dem Schrank, in das er sämtliche Annoncen einklebte, die er aufgab oder beantwortete. Als Erstes fällt mir auf, dass man hinter jedem einzelnen seiner Inserate eine andere Person vermuten würde. Als wäre ein mehrfach persönlichkeitsgespaltener Mensch am Werk gewesen. Das angegebene Alter schwankt von Anfang bis Ende dreißig. Auch die minutiös aufgelisteten sexuellen Vorlieben variieren von Annonce zu Annonce.
„Meine Sucht ist immer stärker geworden. In wenigen Jahren kam ich auf mehr als 1000 Sexpartner. Trotzdem habe ich immer darauf geachtet, mich nicht mit Aids zu infizieren“, sagt Siegfried, der eigenen Angaben zufolge beim Sex stets die Kontrolle behält und sich alle drei Monate einem HTV-Test unterziehen lässt. Bislang fiel das Ergebnis immer negativ aus.
„Die meisten Männer schützen sich bei einem anonymen Quickie eher, als wenn große Leidenschaft oder gar Liebe im Spiel ist“, sagt er. „Allein mit der Anzahl unterschiedlicher Sexpartner hat Aids nichts zu tun. Diese moralische Vorstellung spukt ja bei vielen im Kopf rum. Ich kenne einen, der nur selten in der Gegend rumvögelt und den es trotzdem erwischt hat. Weil er dabei außer Kontrolle geraten ist. So was kann mir nicht passieren.“
Er steht auf, kramt abermals in dem Schrank und schleppt dieses Mal einen Karteikasten an, mit unzähligen Kärtchen, auf denen jeder seiner Liebhaber verzeichnet ist – egal, ob Siegfried nun ein- oder mehrere Male Sex mit ihm hatte. Er zieht ein paar heraus, hält sie mir vor die Nase und erläutert ohne erkennbare Regung in seinem Gesicht die Details dazu.
Wenn er von seinen Sexgeschichten, ja selbst von intimen Einzelheiten dieser Begegnungen erzählt, hat man das Gefühl, einer amtlichen Belehrung in einer Behörde beizuwohnen. Von lustvoller Erinnerung oder einem Anflug von Schwärmerei nicht die geringste Spur, geschweige denn von irgendetwas, das man bei einem seiner Erlebnisse auch nur ansatzweise mit zwischenmenschlicher Nähe in Verbindung bringen könnte.
„Irgendwann steigerte sich die Abhängigkeit vom Sex so sehr, dass ich nicht mehr zur Erledigung meiner Arbeit kam. Ich verbrachte die ganze Dienstzeit mit der Beantwortung von Annoncen oder Zuschriften. Das ging lange gut: zweieinhalb Jahre lang.“
Zweieinhalb Jahre! Eine unvorstellbar lange Zeit, wenn man dabei unentwegt Geschäftigkeit und Produktivität gegenüber Kollegen und Vorgesetzten vortäuschen muss.
Siegfried starrt aus dem Fenster.
Und niemand in der Behörde schöpfte Verdacht?
„Nein“, sagt Siegfried. „Kein Mensch. Bis zu dieser haus-internen Untersuchung. Für mich kam sie völlig überraschend. Meine Akten wurden erstmals kontrolliert. Ein paar Tage später meldete sich mein Chef, der einen Gesprächstermin vereinbaren
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