Grenzen der Sehnsucht
vor sich hingerostet haben muss. Es macht „klick, klick, klick“.
Ein Fotograf springt umher und hält die Szene fest, im Hintergrund die Domspitzen vor dem Abendhimmel. Wie oft das Wahrzeichen der Stadt wohl schon als Hintergrund für ein Foto herhalten musste? „Unzählige Male“, grinst Bernd und winkt ab. Der Dom ist für ihn nicht irgendeine Kulisse, sondern ein Gebäude, das ihm persönlich etwas bedeutet. Ein Stück Heimat eben.
Bernd – das ist der Mann mit dem patschnassen Anzug auf der Aufnahme. Ein anderes Bild zeigt ihn als Konditormeister in einer weißen Schürze und mit einer großen Schüssel. Eine Nachstellung der berühmten Aufnahme des Kölner Fotografen August Sander, der in den zwanziger Jahren ganz gewöhnliche Menschen während ihrer beruflichen Tätigkeit porträtierte. Und auf einem dritten ist Bernd auf dem Kölner Weihnachtsmarkt abgebildet, mit rosafarbenem Schlips und einem Bären im Arm, dem eine Nikolausmütze aufgesetzt wurde. Es wurde erst vor wenigen Tagen aufgenommen. Seine Augen flackern vor lauter Vorfreude, als er von der Aktion erzählt. Die Porträts sollen eine Überraschung für seinen Freund werden.
Wir sitzen im Café Wahlen am Hohenstaufenring; einem traditionellen Treffpunkt, der dem kargen Äußeren des Fünfzigerjahregebäudes beharrlich trotzt. Hier drinnen herrscht noch die typische Vorkriegsnostalgie der westdeutschen Wiederaufbaujahre. Daran ist seither nichts verändert worden. Im Raum hängt ein Kronleuchter, am Fenster geraffte Gardinen und cremefarbene Vorhänge; der Boden ist mit einem blumigen Teppich ausgelegt. Die Fensterbänke glänzen in grünem Granit, die Wände sind mit Stofftapeten tapeziert. Draußen kämpfen sich Menschen durch den vorweihnachtlichen Einkaufstrubel. Eine große Auswahl an altdeutschen Kuchen lockt Kundschaft in die warme Stube: Gebäck aus Großmutters Rezeptsammlung für ein Publikum, das beim Anblick schwerer Buttercremetorten nicht sofort die Nase rümpft und an Kalorien, Cholesterin oder Fettabsaugen denkt.
Ein Freund hatte mir den Ort empfohlen, denn der sei eben nicht nur bei Senioren beliebt, sondern werde auch von Schwulen gerne besucht.
Es ist früher Freitag Nachmittag, außer uns beiden sind noch wenige Besucher da. Bernd verzichtet auf Kuchen. Er legt seine Hände auf den Bauch und sagt: „Ich muss ein bisschen auf meine Figur achten.“ Stolz erzählt er, dass er trotz seines Alters an keinen gesundheitlichen Problemen leide. „Ich bin jetzt 67, fühle mich unternehmungslustig, und bislang muss ich keine Tabletten nehmen. Das ist eine Frage der inneren Einstellung. Andere Schwule meiner Generation sitzen zu Hause, verstecken sich hinter ihren schweren Vorhängen und essen Domspekulatius. Die sind lethargisch und kriegen vom wirklichen Leben gar nichts mehr mit.“
Er hingegen scheint vor Energie zu sprühen. Vor unserem Treffen hat er sich beim Friseur aufpeppen lassen. Seine weißgrauen Haare sind kurz geschnitten, und seit neuestem lässt er sich einen Bart wachsen.
„Ich wollte wissen, wie andere Männer darauf reagieren“, sagt er. „Experimente haben mich schon immer gereizt. In den fünfziger Jahren habe ich mir mal eine Glatze stehen lassen. Das war ein Wagnis damals! Die haben alle gedacht, ich hätte gesessen.“ Er lacht kurz auf, zieht die Stirnfalten nach oben und hört sich dabei so gegenwärtig an, als wäre das nicht etwa vor Jahrzehnten, sondern erst neulich gewesen. Seine Stimme umfasst beim Erzählen eine noch größere Bandbreite an Höhen und Tiefen, als der typische Kölner Akzent ohnehin schon bereithält.
Bernds Freund, für den er die Überraschung mit den Fotos vorbereitet, ist 27 Jahre jünger. „Einen solchen Altersunterschied gibt es nicht oft“, sagt er. Trotzdem funktioniert die Beziehung, ganz ohne Vaterkomplex – und das nun schon seit elf Jahren. Damals lernten sie sich nach Feierabend beim Umsteigen am Ebertplatz kennen, vom Bus in die Straßenbahn. Zufällig saßen sie sich gegenüber, redeten nichts, sondern blickten einander nur an. „Nach drei Stationen sagte ich zu ihm: ,Ich muss jetzt aussteigen’. Er sagte: ,Ich auch.’ Obwohl er gar nicht aussteigen musste. Seither sind wir zusammen, haben aber jeder eine eigene Wohnung behalten. Aber wir verabreden uns so gut wie jeden Tag.“
Elf Jahre lang jeden Abend ein Date. Das sind gut viertausend gemeinsame Verabredungen.
„Jeder von uns hat seinen Beruf, seinen eigenen Interessenbereich. Keiner muss dem
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