Grenzen der Sehnsucht
von Hamburg: die Lange Reihe. Auf dem schmalen Bürgersteig vor den Straßencafés halten Männer mit Sonnenbrillen nach Objekten der Begierde Ausschau, während sie ihren Cappuccino schlürfen. In Szene-Guides kann man lesen, dass hier der „Cruisingfaktor“ kaum zu überbieten sei. Vom Anzugträger bis zum Ledertypen tummelt sich alles, was von erhöhter Testosteronausschüttung auf Trab gehalten wird.
Diese Stimmung der Getriebenheit, die suchenden Blicke, sie gehören zu diesem Stadtteil wie der Fischgeruch zum Hafen.
Sankt Georg – eigentlich kein Stadtteil für brave Pär-chen. Da fallen Bastian und Sven so ganz und gar aus dem Rahmen. Die beiden 39 und 36 Jahre alten Männer, die hier gemeinsam in einer großzügigen Altbauwohnung leben, strahlen in ihrer Zweisamkeit etwas in sich Ruhendes aus. Inmitten der rastlosen Atmosphäre vor ihrer Haustür würden sie einem gar nicht auffallen, auch wenn sie für den Sexmarkt vor der Tür gute Chancen hätten. Vorausgesetzt natürlich, dass sie darauf aus wären.
Sind sie aber nicht.
„Wir betrachten uns nicht als Teil der schwulen Szene“, betont Bastian, „obwohl wir hier natürlich mittendrin wohnen.“
Stimmt – mittiger geht überhaupt gar nicht. Die Wohnung ist wie das Auge des Sturms. Letzte Woche fegte die Parade zum Christopher Street Day direkt unter ihrem Fenster vorbei. Auch die beiden haben daran teilgenommen, so viel Abstand zur Szene muss dann doch nicht sein.
„Wir luden uns Freunde zum Warm-up ein“, sagt Sven, „das hat wie jedes Jahr wieder viel Spaß gemacht.“
„Insgesamt fand ich, dass die Themen auf dem CSD zu stark sexualisiert wurden“, gibt Bastian zu bedenken.
Wenn von Themen überhaupt die Rede sein kann. Fast alle politischen Parteien versuchten, auf ihren Bannern mit angeschwulten Zweideutigkeiten wie „Auch gut zu Vögeln“, „Wir kommen besser“ oder „Aktiv“ und „Passiv“ zu punkten. Schlüpfrige Parolen, die nicht wirklich etwas aussagen, sondern nur sexuelle Lockerheit signalisieren sollen. Das kommt bei der Homo-Zielgruppe offenbar gut an, denn schließlich ist öffentliches Reden über Sex die schwule Errungenschaft Nummer eins. Und dazu gehört auch, dass sexuelle Kontakte immer verfügbar und längst nicht nur auf die Partnerschaft begrenzt bleiben müssen.
Bastian und Sven wiederum wollen die Sache mit dem Sex in ihrer Partnerschaft konventionell handhaben.
„Treue ist uns wichtig“, sagt Sven, der Jüngere, und Bastian pflichtet ihm da sofort kopfnickend bei.
Nicht, dass sich beide damit irgendwelchen Illusionen ausliefern würden. Stimmen der Verführung gibt es schon, Bastian räumt das ganz offen ein: „Ich könnte mir gut vorstellen, in einer Welt zu leben, in der kein Mann so geil ist wie mein Freund. Aber das ist eben nicht so.“
Er sagt das in aller Seelenruhe und wirkt dabei überhaupt nicht so, als würde er an Selbstzweifeln leiden.
Sven lehnt sich gelassen auf seinem Stuhl zurück, schaut ihn von der Seite an und grinst.
„Beim Sport oder so kann es schon mal passieren, dass ich jemand anderes rattenscharf finde“, fährt Bastian fort, „aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass das nur eine Phase ist, das geht nach einiger Zeit vorbei. Für unsere Beziehung wäre es nicht gut, diesem Drang nachzugeben.“
Immerhin acht Jahre sind sie nun schon zusammen.
Kennen gelernt haben sie sich über eine Kontaktanzeige im Stadtmagazin Szene Hamburg. Dabei wohnte Bastian zu dieser Zeit überhaupt nicht hier, sondern in Kiel, wo er gerade studierte.
Wieso inserierte er eigentlich in Hamburg?
„Für mich war das eine Frage der Mathematik!“
Wie bitte?
„Na ja, die Szene in Kiel ist sehr klein“, sagt Bastian, „es beschleicht einen dort das Gefühl, dass es nicht mehr als hundert Schwule gibt. Darum habe ich eine Zeit lang in allen möglichen Städten Kontaktanzeigen aufgegeben, unter anderem in Hamburg und Berlin.“
Ein paar Dutzend Männer hat er dabei kennen gelernt.
„Häufig merkt man ja schon bei einem Telefonat, ob einer in Frage kommt oder nicht. Und wenn man sich gegenüber sitzt, dann funkt es entweder nach einer Minute oder überhaupt nicht.“
Die mathematische Wahrscheinlichkeitsrechnung hat Bastian jedenfalls einen Volltreffer in der Liebe beschert, mit Sven ist die Gleichung aufgegangen. Ein Zufall eigentlich, doch ohne sein Zutun wäre es nicht passiert.
Das Glück war, wie sich bald darauf herausstellen sollte, von längerer Dauer. Bastian, der schon
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