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Grenzfall (German Edition)

Grenzfall (German Edition)

Titel: Grenzfall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merle Kröger
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die Kreuzberger Fabriketage. »Wir wollen keinen fremden Dolmetscher dabeihaben. Nadina, meinst du, du könntest übersetzen? Wir zahlen zwanzig Euro die Stunde auf Honorarbasis. Bar gegen Quittung.«
    Mattie sieht zu Nadina. »Schaffst du das?«
    Die wischt ihre Zweifel beiseite. »Ich nehme jede Arbeit an. Du hast doch gesehen, wie es bei uns läuft.« Ohne weitere Diskussion greift sie nach Papier und Stift, die auf dem Tisch bereitliegen.
    Liviu sitzt auf dem Freischwinger wie ein Fremdkörper. Als er hört, was man von ihm will, macht er ein Gesicht, als würde er am liebsten weglaufen. Mattie ahnt, was in ihm vorgeht. Man spricht nicht über die Toten.
    Volker stellt seine Fragen vorsichtig. Liviu blickt starr vor sich hin, während er mit leiser Stimme berichtet. Der Polizeijeep, der ihnen hinter der Brücke mit hoher Geschwindigkeit entgegenkam. Adriana, raus und auf dem Feld, noch bevor der Wagen stand.
    Nadina liest ihre Notizen vor. »Er rannte ihr hinterher. Zuerst fand er einen Toten. Es war Adrianas Vater. Sein Freund.« Sie spricht zu schnell, ist blass. »Kann ich ein Glas Wasser haben?«
    Mattie steht auf und geht zum Waschbecken.
    Liviu redet weiter. Jetzt, wo er einmal angefangen hat, kann er nicht mehr aufhören.
    »Er hörte das Mädchen Adriana weinen und ging zu ihr. Sie lag mitten im Feld. Er hob sie hoch. Dabei sah er den zweiten Mann. Er kannte ihn nicht.«
    Volker hält Liviu davon ab, weiterzusprechen. »Geht es, Nadina?« Sie nickt. »Ich muss diese Fragen stellen. Das ist sehr schwer für dich. Möchtest du, dass wir jemand anders zum Übersetzen holen?«
    Mattie stellt das Glas Wasser vor sie hin. »Du musst das nicht tun.«
    Sie trinkt einen Schluck. »Habt ihr genug gelabert? Können wir jetzt weitermachen?«
    »Also gut.« Volker nickt Liviu zu, der sich nicht bewegt hat. Der patente, unerschütterliche Mechaniker wirkt auf einmal zerbrechlich. Mattie stellt sich den jungen Liviu von damals vor, wie er im Feld stand, zwischen zwei Toten, das Mädchen auf dem Arm.
    »Liviu, diese Frage ist sehr wichtig. Bitte versuchen Sie, sich genau zu erinnern. Sind Sie ganz sicher, dass der zweite Mann tot war?«
    Mattie horcht auf.
    Liviu stützt die Unterarme auf den Tisch und verbirgt sein Gesicht in den Händen. So sitzt er eine Weile da und schweigt. Dann hebt er den Kopf. Mattie sieht, dass er geweint hat. Er spricht weiter, nicht auf Rumänisch, sondern in seinem Spanisch-Englisch direkt zu Volker.
    »Ich sah, dass Blut aus seinem Mund lief. Die Augen waren offen. In dem Moment war ich sicher, dass der Mann tot ist. Aber später – diese Augen. Ich musste immer daran denken. Die ganze Rückfahrt über.« Liviu zögert, dann sieht er Nadina an und erklärt etwas auf Rumänisch.
    Sie kritzelt auf ihren Zettel, ohne aufzublicken. »In Kollwitz ging er sofort zur Polizei. Er sagte ihnen, eine Gruppe von Flüchtlingen sei in der Nacht von der Grenzpolizei beschossen worden. Er gab ihnen den Ort an. Die Polizisten telefonierten eine Weile herum. Er ist sicher, dass sie ihm nicht geglaubt haben.« Nadina schweigt und starrt auf ihre Notizen.
    »Das reicht für heute«, sagt Volker.
    Auf der Rückfahrt zum Parkplatz am Plänterwald spricht niemand ein Wort. Liviu murmelt einen kurzen Gruß und verschwindet zu seinen Leuten.
    Passend zur Stimmung braut sich draußen ein Gewitter zusammen. Mattie bezieht das Bett für Nadina und legt für sich selbst die Notmatratze über die beiden Vordersitze. Für eine Nacht wird es schon gehen.
    Das Mädchen kriecht sofort unter die Decke. Mattie füllt kochendes Wasser in zwei Becher mit asiatischer Instant-Nudelsuppe. Extra scharf, damit die Tränen ungehindert laufen können.
    Sie löffeln schweigend.
    Mattie räumt die Tassen in die Spüle.
    Nadina schnieft. Ihr Blick ist starr an die Decke des Busses gerichtet. »Es wäre besser, wenn er tot gewesen wäre wie der andere.« Sie spricht, ohne den Blick zu senken. Zu sich selbst? Zu ihrem toten Vater? Zu Gott? Auf Englisch? »Aber dass er da gelegen hat, allein auf diesem Feld …«
    Mattie fühlt sich überfordert. Das Mädchen ist neunzehn. Womit beschäftigen sich andere Neunzehnjährige? Partys? Klamotten?
    Plötzlich direkter Blickkontakt. »Meinst du, er hat Schmerzen gehabt?«
    Soll sie lügen? Tut es dann weniger weh?
    »Ich weiß es nicht«, sagt sie und macht das Licht aus. Draußen donnert es. Aber das Bild bleibt.
    Nicu liegt im Feld. Er kann sich nicht bewegen. Der Morgen dämmert. Die Sonne geht

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