Grenzfall (German Edition)
verschwunden ist. Mattie dreht sich um und nickt. Der Blick des Mädchens wird hart. »Mach dir keinen Kopf. Ich bin dran gewöhnt.«
Sie gehen noch mal raus auf den Gang.
Silvia steht vor dem Fenster. Sie sieht winzig aus.
Der Zug fährt los.
25. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
Nick klingelt. Der Zwergspitz zieht an der Leine. In der Tür steht ein Langhaariger mit weißem Kittel, darunter ein krasses Death-Metal-T-Shirt.
»Ich bin um drei mit Professor Berghaus verabredet.«
»Tut mir leid. Doktor Quincy ist noch unterwegs. Ich soll Ihnen ausrichten, er schafft es erst in einer Stunde.«
»Doktor Quincy?«
Der Hund spitzt die Ohren.
»Witz. Berghaus.«
Nick lacht höflich. »Darf ich Sie was fragen?«
»Klar.«
»Finden Sie das nicht irgendwie, na ja, makaber, mit ’nem Zombie-T-Shirt in der Gerichtsmedizin …«
Der Typ guckt an sich runter. »Nö. Passt doch.« Er deutet hinter sich. »Sie können drinnen warten.«
»Nein, danke.« Lieber draußen in der Sonne als mit lauter Leichen da drinnen. Nick und der Hund spazieren durch die Altstadt von Kollwitz zum Strand. Warum muss eigentlich jedes Kaff an der Ostsee heute eine Seebrücke haben, die fast bis Dänemark reicht?
Nick bleibt oben auf dem Deichweg stehen. Ihm ist nicht nach Baden, und hier ist auch kein Hundestrand. Er setzt sich auf eine Bank.
»Sag mal, wie war das eben?« Der Hund macht Sitz und sieht ihn an. »Quincy?«
Schwanzwedeln.
»Heißt du Quincy?«
Der Kleine stellt die Vorderpfoten auf Nicks Knie und versucht sein Gesicht abzulecken.
»Blöder Name.« Er streichelt die weichen Ohren.
Es tut gut, endlich wieder unterwegs zu sein. Einer Spur zu folgen. Über nichts nachzudenken als über Puzzlestücke, die sich noch nicht zusammenfügen. Nick ist überzeugt davon, dass es auf jede Frage eine Antwort gibt. Man muss nur lange genug draufstarren. Die eigene Ungeduld besiegen.
Om. Rückblende auf seine meditative Exkursion in den Ashram von Poona vor ein paar Jahren. Sieh, was vor dir liegt, Nick.
Auf den Besuch bei der Feuerwehr in Peltzow folgte ein kurzes Telefonat mit Volker. »Finde den Arzt. Finde die Sanitäter. Finde den Gerichtsmediziner. Bleib dran. Nimm dir irgendwo ein Zimmer.«
Der Arzt praktiziert nicht mehr und ist weggezogen.
Der Sanitäter wollte ihn nicht mal in den Vorgarten lassen. »Ich möchte mich da lieber nicht zu äußern. Brauche meinen Job.« Hat sich in diesem Zipfel der Republik die Realität verschoben, oder hat Nick irgendwas nicht mitgekriegt in Bombay? Dreißig Prozent NPD. Braune Mafia. Alle haben Angst.
Ein Zimmer fand er in einem Gutshaus, das laut Internet zu einem Künstlerdorf gehört. Er hofft, dass Künstler und NPD-Leute einander nach wie vor nicht leiden können. Der bärtige Gutshausbesitzer begleitete ihn auf seiner Abendrunde mit Quincy durch den Park. Er zeigte ihm zwei Gräber neben der alten Kapelle. »Hier haben die Zwangsarbeiter einen ranghohen Nazi und seine Geliebte mit der Mistgabel erschlagen, bevor die Russen ’45 einmarschiert sind. Ein Sklaventreiber, wie er im Buche stand. Die wollten sichergehen, dass er nicht davonkommt.« Diese Geschichte gefiel Nick schon besser. Er schickte sich selbst eine E-Mail, um die Idee für einen Artikel abzuspeichern. In seiner Inbox fand er die versprochene Einladung der Staatsanwaltschaft zur Pressekonferenz.
Er öffnet die Augen und blinzelt in die Sonne. Sieht auf die Uhr. Wenn Professor Quincy nicht bald kommt, verpasst er seinen farblosen Mitverschwörer Doktor Schölling bei dessen offiziellem Auftritt. Man trägt wieder Titel heute. Echt oder gekauft, spielt doch keine Rolle.
Wieder der Zombie-Fan. »Jetzt ist er da.« Er weht mit seinem weißen Kittel vorneweg. Nick folgt ihm zögernd in den hinteren Bereich. Er sieht sich schon kotzend unter einem dieser Metalltische liegen. Tür auf, vorsichtiger Blick hinein – nur ein ganz normales Büro. Am Schreibtisch sitzt ein Mann, der deutlich größer und runder ist als Doktor Quincy. Grüner OP-Dress. Der Zombie zwinkert ihm zu und geht. »Viel Glück!«
Nick stellt sich vor und setzt sich auf den Besucherstuhl. Professor Berghaus sieht nicht so aus, als ließe er sich leicht einschüchtern. Nicht von der NPD, und auch nicht von einem Pressefuzzi wie Nick. Der Name passt. Ein Berg von einem Mann.
»Ich erinnere mich genau an den Fall.«
»Warum?« Nick schaltet sein Aufnahmegerät ein.
»Weil es mich maßlos geärgert hat, dass wir die
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