Grenzgänger
mir ein wenig Klarheit zurück. Entsetzt tastete ich über meine Lippen und sah das Blut darauf.
»Samhiel!«, schrie ich. »Samhiel, du Mistkerl! Zeig dich!«
Meine Schreie hallten in dem leeren Zimmer wieder. Was hatte ich auch erwartet? Der kurze Moment an Kraft, den mir meine Wut gegeben hatten, verflog. Ich senkte den Kopf und schluchzte heiser. Meine Kehle tat mir bereits weh.
Leises Flüstern drang an mein Ohr. Es waren Stimmen, die leise wisperten. Oder… nein, keine Stimmen. Wasser. Das Rauschen der Wellen an einer fernen Küste. Dieses Geräusch kannte ich.
Ich hob den Kopf. Samhiel stand vor mir und sah auf mich herab. Er trug den gleichen Gesichtsausdruck, wie auch in meinem Traum – bittend und voller Schmerz. Mir war es egal. Ich war dankbar für den Zorn, der wieder in mir aufwallte, um mich lang genug vor der Trauer zu schützen. Der Trauer, mit der ich nicht umgehen konnte.
Ich holte aus und warf die Kröte nach dem Engel. Er fing sie auf und legte sie auf den Tisch.
»Es ist etwas von ihr«, sagte er und seine Stimme hatte einen zitternden Unterton.
»Was sollte dich das kümmern?!«, schrie ich ihm entgegen, noch immer auf den Knien. »Du hast etwas mit mir gemacht! Und deswegen habe ich sie verloren!«
Samhiel sah aus, als hätte ich ihn geschlagen. Er schwankte leicht, blieb aber stehen. Das lange Haar, das offen auf seine nackte Brust fiel, verflocht sich mit den schwarzen Mustern, die darauf gemalt worden waren.
»Feline.«
Er kniete sich zu mir. Das Rauschen der Wellen wurde lauter. Ich wich zurück. »Wag es nicht mich zu berühren!«, zischte ich. Aus einem Instinkt heraus fauchte ich und bleckte die langen Zähne. Erschrocken über mich selbst, ruckte ich wieder zurück. Neue, heiße Tränen strömten über mein Gesicht. »Sieh dir das genau an«, sagte ich leise. »Sieh dir an, was du mit mir gemacht hast. Ich kann nicht einmal zu ihrer letzten Ruhestätte. Du hast sie mir genommen, du hast mir mein bisheriges Dasein genommen…«
Samhiel kam noch näher. Ich konnte nicht weiter zurückweichen, denn ich spürte bereits die Wand im Rücken. Die Wellen waren nun viel näher. Der Engel beugte sich zu mir und das Geräusch Tausender von Federn, die übereinander lagen und gegeneinander strichen wurde lauter. Ein Rauschen, ein Chor von sich bewegenden Federn.
»Feline«, sagte Samhiel abermals, ehe er die letzten Zentimeter überwand und mich in seine Arme schloss.
Ich wollte mich wehren, aber kaum hatte er mich berührt, spürte ich, wie etwas von mir abfiel. Die Angst, die Trauer und die Wut waren noch immer da. Stärker als zuvor sogar, denn jetzt fehlte die Verzweiflung. Der Verlust war groß, aber er würde nicht ewig anhalten. Der Schmerz würde eines Tages zu ertragen sein – ich würde es lernen.
Es waren nicht meine Gedanken. Auch nicht Samhiels. Es war eine Gewissheit, die von einem Ort kam, den ich nicht kannte. Und den ich im Augenblick auch nicht suchen wollte. Alles was zählte war der Trost, den er mir schenkte. Ich schloss die Augen und überließ mich seinen Armen und den Tränen. Ich weinte haltlos und ließ zu, dass Samhiel mich sanft wiegte, mir immer wieder über den Rücken strich und leise meinen Namen sagte. Und noch immer hörte ich das Rauschen seiner Flügel.
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Kapitel 20
Es war früher Abend, als ich mich wieder derart im Griff hatte, dass ich nicht bei jedem Atemzug in Tränen ausbrach. Samhiel hatte den ganzen Tag an meiner Seite gesessen und mich getröstet. Gesprochen hatte er kein Wort und ich war dankbar dafür.
Ich stand auf und ging ins Bad, um mir das verquollene Gesicht zu waschen. Den Blick in den Spiegel mied ich. Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, saß Samhiel noch immer auf dem Sofa und betrachtete die Krötenstatue. Ich setzte mich neben ihn. »Sie sagte, es sei ein Geschenk. Vielleicht würde sich irgendwann wirklich ein Hausgeist darin einnisten.« Ich lächelte schwach.
Samhiel drehte die Statue in den Händen. »Es war kein Hausgeist darin«, sagte er schließlich. Er seufzte. »Feline, es gibt viel, was du erfahren musst, aber ich fürchte, jetzt ist der falsche Zeitpunkt dafür.«
Ich putzte mir die Nase. »Samhiel – was willst du hier?«, fragte ich gepresst.
Er stellte die Statue wieder auf den Tisch. »Ich will bei dir sein«, sagte er schlicht.
Überrascht ließ ich meine Hand aus meinem Haar gleiten. »Warum?«
Der Engel lehnte sich zurück, den
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