Grenzgänger
nach vorn.
Ich presste die Hand auf mein Herz. Mitleid überwältigte mich, als ich Samhiel so sah. Die Wut auf ihn, weil er mich in diesem Zustand zurückgelassen hatte, erlosch dadurch nicht. Aber sie wandelte sich und wurde zu Mitleid.
Genau in dem Moment, als ich den Engel ansprechen wollte, hörte ich Kays Stimme. Sie klang so deutlich, als ob der Seelie-Sidhe direkt neben mir stehen würde. Was er tatsächlich auch tat, als ich mich umdrehte. Er sagte meinen Namen und kam näher. Er sah aus wie sonst auch. Wollmantel, grauer Anzug, viel zu bunte Krawatte, die Haare in einen ordentlich geflochtenem Zopf. Nur auf seiner Stirn war eine neue, tiefe Falte erschienen. Er sah mir nicht in die Augen und seine Haltung wirkte gebückter als sonst.
»Was siehst du dir da an?«, fragte er und wühlte unruhig in seiner Manteltasche.
Ich streckte mich und ließ mich in das plötzlich auftauchende Gras fallen. Es war mein Traum und ich merkte, dass sich alles nach meinen Wünschen richtete. Bäume tauchten wie aus dem Nichts auf und die Umgebung wandelte sich zu einer einladenden Wiese am Waldrand mit einem plätschernden Bach.
Kay drehte den Kopf, um sich umzusehen, aber er wirkte nicht überrascht. Ich musste meinem Unterbewusstsein gratulieren – das war eine sehr realistische Ausgabe meines Chefs.
»Keine Ahnung, sah aus wie ein paar Engel«, sagte ich im Plauderton. Kay lächelte schief, aber noch immer wich er meinem Blicken aus.
»Mich wundert, dass du hier bist. Aber eigentlich sollte es das nicht, oder?«, fuhr ich fort. Kay kam näher und scharrte nervös mit seiner Schuhspitze in der Erde neben mir. »Du träumst nicht, Feline.«
Ich breitete die Arme aus. »Natürlich träume ich.«
»Nein. Du schläfst, aber du träumst nicht. Zumindest jetzt nicht. Das davor sah nach einem Traum aus.«
»Na dann… und was tue ich deiner Meinung nach dann gerade, wenn ich nicht träume?«
»Du bist im Reich des Zwielichts. So etwas wie der Garten, den ich dir gezeigt habe. Nur neutraler.« Kays Stimme war sehr leise. Ich musste mich anstrengen, ihn zu hören. Was sollte das?
Nicht einmal die Träume waren noch das, als das ich sie kannte. Resignierend hob ich die Schultern. »Und warum bin ich hier?«
Kay wirkte mit einem Mal noch nervöser. Das Loch, das er mit seinem Schuh gebohrt hatte, war groß genug, dass ich meine Faust hätte hineinstecken können.
»Es geht um deine Mutter.«
Seine Miene… ich spürte mit einem Mal einen Knoten im Hals. »Was ist mit ihr?«, brachte ich heraus.
»Ich…« Kay fuhr sich über die Augen. »Es tut mir Leid«, sagte er schließlich leise.
Der Knoten wurde größer. Ich starrte ihn an.
»Was ist passiert?«
»Ich habe sie gestern Nacht gefunden. Sie ist… sie wurde von einem Vampir überfallen. Ich konnte leider nichts mehr tun.«
Nicht ein Muskel in meinem Körper ließ sich noch bewegen. Taubheit kroch durch jede Faser und lähmte meine Zunge und meine Gedanken. Das war nicht möglich. Meine Mutter war weggefahren, sie war nicht tot, dieser Mann erzählte Lügen. Sie war nicht tot. Niemals.
In diesem Moment erwachte ich.
Dieses E-Book wurde von "Lehmanns Media GmbH" generiert. ©2012
Kapitel 19
Kay fühlte sich elend. Er stand vor dem Lagerhaus und wartete darauf, dass Feline eintraf. Die Adresse hatte er ihr per Handy mitgeteilt. In welchem Zustand sie sein würde, wusste er nicht. Menschen konnte er nur schwer einschätzen, erst recht wenn er sie nur so kurz kannte wie Feline.
Arien war da anderes gewesen. Er hatte die Hexe kennengelernt, als sie noch ein Kind war. Sie gehörte gewissermaßen zur Familie, weswegen er mit ihr immer hatte mehr anfangen können, als mit dem Rest der Menschheit.
Arien war auch eine der wenigen gewesen, die sich mit ganzem Herzen auf die Anderswelt eingelassen hatte. In ihrer eigenen Welt hatte ihr das oft Probleme bereitet und sie zur Außenseiterin gemacht. Dennoch hatte sie sich niemals davon abbringen lassen, von ihren Freunden, den Elfen, zu erzählen.
Kays fuhr sich wieder über das Gesicht und schloss die Augen. Für seinen Clan war Arien ein Kind gewesen, ein Mitglied. Sie würde auch auf diese Weise bestattet werden.
Noch ein Punkt von dem er nicht wusste, wie er es ihrer Tochter beibringen sollte. Sie würde kein Grabstein auf einem Friedhof haben. Arien hatte immer darauf bestanden, nicht auf einem christlichen Friedhof begraben zu werden. Sie wollte endgültig in die Anderswelt gehen. Vielleicht würde Feline trotz
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