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Grenzgänger

Grenzgänger

Titel: Grenzgänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Behrmann
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davor bewahrt hatte, vollkommen loszulassen.
    Aber Inés war nicht mehr da. Inés war von dieser Kreatur geholt worden.
    Roumond gab einen erstickten Laut von sich und presste die Perlen fester an seine Stirn. Der Rosenkranz war ein Geschenk von Inés Mutter an ihre Tochter gewesen. Aber weder sie, noch das kleine Mädchen konnten ihn noch halten. Nur er. Er wäre jetzt ein alter Mann. Wenn er damals anders gehandelt hätte, schneller gewesen wäre…
    Das ES war eines Nachts zu ihm gekommen. Die Gestalt war angenehm gewesen, eine schöne Frau mit einem aufreizenden Lachen, das jeden seiner Nerven wie elektrisiert zurückließ. Sie hatten Wein getrunken, geredet, sich geküsst. Yvonne, seine Frau, war zu diesem Zeitpunkt schon drei Jahre tot und Inés schlief ruhig in ihrem Zimmer, ein Stockwerk höher.
    Roumond hatte sich für eine Weile gut gefühlt. Befriedigt. Bis der Schrei von oben ertönte.
    Die Frau, die sich Sekunden zuvor noch willig an seinen nackten Körper gepresst hatte, war verschwunden. Aber ehe der Schreiner seiner Verwirrung Herr werden konnte, ertönte ein zweiter Schrei und er lief nach oben.
    In der Tür zu Inés Zimmer blieb er stehen. Sein Körper verdeckte das Licht, aber er bewegte sich nicht weiter zum Bett. Am liebsten hätte er nie wieder etwas gesehen.
    Die immer lachende, kleine Inés lag mit offenen glasigen Augen auf ihrem Bett. Er hatte es noch am Abend zuvor neu bezogen mit weißer Bettwäsche. Jetzt war sie rot.
    Keuchend löste sich seine Erstarrung und Roumond wollte ins Zimmer stürmen, aber etwas riss ihn zurück und ließ ihn gegen die Wand prallen. Gestank von verrottetem Fleisch füllte seine Lungen und er rang nach Atem.
    Das Gesicht der schönen Frau schob sich vor seines. Die Augen, ehemals warm und braun waren nun einem kranken Weiß gewichen. Sie lächelte ihn mit spitzen Zähnen an.
    »Das ist deine Schuld«, flüstere sie und ihre Stimme hatte sich ebenso verändert wie ihre Augen. »Du hast mich in dieses Haus gelassen, aus reiner Wollust. Und deine Tochter ist der Preis.«
    »Nein!« Roumond schrie auf und wollte sich losmachen, aber sie hielt ihn mit übermenschlicher Kraft fest. Er spürte das Holz des Zimmers nur allzu schmerzhaft in seinem Rücken. Zum Glück wurde Inés Bett von dem Körper der Frau vor sich verdeckt.
    »Oh doch«, schnurrte diese und allein das Geräusch jagte ihm Gänsehaut über den nackten Leib.
    »Nimm etwas anderes. Meinetwegen mich. Aber nicht Inés!«
    »Sie ist bereits tot.«
    »Nein!« Roumond wehrte sich stärker. »Du verdammtes Monster!«
    »Rührend.« Sie umfasste seine Kehle und scharfe Nägel gruben sich wie Klauen in seine Haut. Roumond spürte etwas Warmes an seinem Hals entlang laufen. Blut.
    »Aber vielleicht bin ich doch zu einem Tausch bereit…«
    Es zischte leise und nur mit Mühe konnte Roumond die Hand mit dem Rosenkranz von seiner Stirn nehmen. Die Stelle, an der er die Perlen gepresst hatte, pochte. Aber sie würde heilen. Wie alles andere auch.
    Jean Roumond hatte die Hölle gesehen. Und seitdem wusste er. Er konnte nicht mehr glauben, seit er in diesen unseligen Tausch eingewilligt hatte. Inés war noch immer tot, aber dieses Scheusal hatte ihm versprochen, dass es sie wieder lebendig machen würde. Roumond musste nur seine Schuldigkeit tun. Es hatte Jahrzehnte gedauert, ehe er erfahren hatte, um was es sich dabei handelte. Weitere Jahre hatte er gebraucht, um mögliche Frauen zu finden.
    Dieses Ding hatte recht gehabt. Es war so gekommen, wie es gesagt hatte. Der Engel hatte diese Welt betreten und »das Wort« der Frau gegeben.
    Roumond hatte sich von Agnes ablenken lassen. Sie war Inés so ähnlich. Die gleiche Unschuld, das gleiche Lächeln. Aber jetzt brauchte er Agnes nicht mehr. Jetzt war er seinem Ziel nah. Bald würde er die echte Inés wieder in seinen Armen halten können, seine geliebte Tochter.
    Roumond stand auf und steckte den Rosenkranz in seine Tasche.
    Dieses E-Book wurde von "Lehmanns Media GmbH" generiert. ©2012

Kapitel 23

    Der Wind war im Lagerviertel mindestens ebenso stark wie am Hafen. Hier stank er nur nicht nach altem Wasser, sondern nach Müll. Ich schloss den Kragen meines Mantels und schob den Schal vor meinen Mund. Es hatte mir einige Mühe bereitet, das Lagerhaus trotz Adresse wieder zu finden. Hier sah alles gleich aus.
    Außer mir waren nur Ratten unterwegs. Nachts kam kaum jemand vorbei, auch wenn man vermuten würde, dass irgendwelche Jugendgangs oder ähnliche Gruppen ihren

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