Grenzgang
Rest seines Lebens im Rollstuhl statt einmal im Bus.
»An der Nasenspitze hab ich dir angesehen, dass was nicht stimmt. Aber dass es so schlimm ist …« Mit beiden Händen auf den Stock gestützt, suchte Heinrich nach einer Stellung, die seine Hüfte entlastete.
»Warum setzen wir uns nicht hin? Wird noch dauern, bis die anfangen.«
»Wenn ich mich einmal setze, Thomas, komm ich nicht mehr hoch.«
»Ich helf dir.« Ohne auf weitere Einwände zu hören, fasste er seinen Onkel wie ein Rettungsschwimmer mit beiden Armen um die Brust und ließ ihn langsam auf die Wiese nieder.
»Wenn das mal kein Fehler war«, sagte Heinrich. »Jetzt lieg ich hier wie Altpapier.«
»Der Fehler war, dass du nicht den Bus genommen hast.«
»Was willst du jetzt machen? Beruflich.«
»Das ist der wirklich witzige Teil der Geschichte: Ich hab nicht den Hauch einer Ahnung.« Im Hinsetzen knotete er sich die Jacke von der Hüfte und gab sie seinem Onkel. Der lag tatsächlich mehr im Gras, als dass er saß, weil ihm die gleichzeitige Beugung und Belastung des Hüftgelenks die stärksten Schmerzen verursachte.
»Weiß es deine Mutter?«
»Nein. Muss sie auch vorerst nicht.«
Mit Mühe stützte Heinrich sich auf die Seite und grüßte jemanden, der hinter ihnen vorbeiging. Sie lagerten am Rand der Wiese, im Rücken der Menge, und nur vage konnte Weidmann über die Köpfe hinweg die Aufstellung der Reiter, Führer und Fahnen erkennen, die sich beim letzten Grenzstein versammelten. Der Strom der Wanderer aus dem Wald begann zu versiegen, jetzt kamen nur noch Nachzügler, Mütter mit kleinen Kindern, Betrunkene. Er hörte das Pfeifen der Regionalbahn.
»Was passiert jetzt hier?«
»Kurze Ansprache des Bürgerobersten hoch zu Pferde. Sehr kurze Ansprache, denn der kann besser reiten als reden. Dann wird gesungen, und das war’s dann.«
»Das war’s dann.« Weidmann sah sich um. Er hätte gerne gewusst, ob es eine Verbindung gab zwischen dem auffällig großen Pflaster auf Jürgen Bambergers Stirn und seiner Begegnung mit dessen Frau am Rand der Festwiese. Sie war heute den ganzen Tag nicht aufgetaucht, nicht am Marktplatz, nicht am Frühstücksplatz und nirgendwo unterwegs. Hatte sie ihrem Mann von dem Kuss erzählt? Hatte es eine Auseinandersetzung gegeben, deren Spuren in Kerstin Bambergers Gesicht auch ein noch so großes Pflaster nicht verbergen konnte und die sie zwangen, auf den letzten Grenzgangstag zu verzichten? Musste er befürchten, dass Bamberger auch auf ihn losgehen würde, wenn sie einander begegneten? Jedenfalls hatte er es am Frühstücksplatz vorgezogen, ihn von ferne zu beobachten, und beim Abmarsch darauf geachtet, der Männergesellschaft Rheinstraße einen genügend großen Vorsprung zu lassen. Jetzt sah er statt Kerstin Bamberger Anni Schuhmann und seine Mutter mit suchenden Blicken über die Wiese schlendern, winkte und erkannte schon von weitem den zornigen Glanz in Annis Augen.
»Am besten, ich stell mich tot«, sagte Heinrich.
Von vorne, wo die Offiziellen standen, breitete sich eineerwartungsvolle Stille aus, in der Annis Stimme umso deutlicher zu hören war.
»Guck, Inge, do läid er, un do lärre man om bessde ach läije.«
»Awwer dann bitte in Ruhe un Frieden.« Heinrich hatte sich seinen Hut ins Gesicht gezogen wie ein Cowboy am Lagerfeuer.
»Oh, äich täd dir so gonn den Hinnern versohl’n.«
»Äich läije schoh beräd. Awwer geb Obachd off mäije Hüffde, gelle.«
»Heinrich Schuhmann, wie ess dos da möchlich, dos äije Mensch alläh so dumm känn säi.«
»Äich ho’s beharrlich geühbd, Anni. Äich ho mer wägglich Müh gegäwwe.«
Einige der Umstehenden waren aufmerksam geworden auf den Disput und drehten die Köpfe, und Heinrich und Anni begannen aus dem Streit eine Vorführung zu machen; sie mit den Händen in der Hüfte über ihm stehend, er inzwischen flach ausgestreckt auf dem Rücken liegend, unter der Hutkrempe in die Sonne blinzelnd.
»Un wie krieje mer dich jetz häm?«, fragte sie. »Soll’n s’Inge un äich jedes ähn Fuss nomme un dich uff’m Rücke häm schläife?«
»Werfd mich in’n Fluss, die Richdung missde stimme.«
»Du kahsd nedd schwimme, Heinrich, häsd’ dos schoh vergäse.«
»Äich hale die Lufd oh un läss mich träiwe.«
»So, dos wär’ awwer dos äschde Mol in däijem Lewe, dos du die Lufd anhälsd.« Der Satz ging an die Umstehenden, und der Punkt ging an Anni.
»S’wär jo oach s’äschde Mol, doss äich mich träiwe läss.« Er streckte
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