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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Gleichgültigkeit? In diesem Moment schien es Weidmann, sich selbst so weit auszudünnen, dass die Anflüge von Verzweiflung, denen er seit Monaten ausgesetzt war, einfach durch ihn hindurch und weiterziehen würden, wie der Wind durch das Tal. Aus Mangel an Widerstand. Aus Mangel an Beweisen, dass es für ihn noch etwas zu verlieren gab. Jahrelang hatte er versucht, mehr zu sein, als er war – wie wäre es einmal mit dem umgekehrten Versuch?
    »… weil wir wissen, dass … so wie’s der Bürgermeister gesagt hat … in dieser unserer Gemeinschaft …«
    Was ihm abging, war der Wille, das Beste aus der Situation zu machen, denn warum ausgerechnet das Beste? Warum nicht das Viertbeste oder Siebtschlechteste? Gab es um ihn herum einen einzigen Menschen, der aus seinem Leben das Beste gemacht hatte?
    »… in sieben Jahren beim nächsten Grenzgang … in Gesundheit und Dankbarkeit …« Der Oberst war fertig mit seiner Rede und darüber so erleichtert wie alle anderen. Kommandos gingen hin und her, dann erklang Musik.
    Hier liefen erwachsene Männer in Uniformen herum und nannten ihre Säbel Gewehre. Und nannten das wiederum Tradition. In Bergenstadt machte man nicht das Beste aus seinem Leben, und er mochte das. Die Welt war voller Leute, die an ihrem aufgeblasenen Ego hingen wie an einem Heißluftballon ohne Gondel: Zappelnd, grotesk, vom Absturz bedroht. Er hatte sie auf Tagungen beobachtet, und er hatte sich selbst auf Tagungen beobachtet! Wie oft hatte er durch die Nase gesprochen und an seinem Brillenbügel gekaut und, wenn ihm gar nichts mehr einfiel, ›Dialektik‹ gesagt. Wer brauchte das? Wer brauchte ihn? Konstanze weniger, als sie glaubte, und seine Mutter mehr, als sie zugab, und sonst? Um ihn herum erhoben sich alle von der Wiese. Heinrich öffnete kurz die Augen und schüttelte den Kopf.
    »Äich krieje’n Arsch nedd mie hug.«
    Dann sangen alle Drüben im Hinterland bin ich so gern , und Weidmann wunderte sich, dass er den Text zur Hälfte kannte. Für den Anfang nicht schlecht. Dünn und dumpf erhob sich Gesang in die Luft, ein Chor ohne Dirigent, halb in Moll gemurmelt aus durstigen Kehlen. Aber der Wind nahm’s gelassen, und das Schloss schaute weg.

    * * *

    Eine laue Sommernacht liegt über den üppigen Grundstücken. In der Nähe wird Obst angebaut. Immer noch ist die Autobahn zu hören als fernes Rauschen, das hinter einem bewaldeten Hügel aufsteigt. Kerstin greift nach ihrer Handtasche und steigt aus. Der Mond hat sich von seiner wolkigen Bergkette entfernt und steht hoch über der Landschaft. Der Wind trägt den Geruch von Torf und Blüten mit sich, das Zirpen von Grillen, ein Flüstern in den Bäumen. Kinder haben Kreidegesichter auf die Fahrbahn gemalt.
    »Ich überlege gerade«, sagt Karin, »ob ich mich am Telefon mit falschem Namen gemeldet habe, aber ich glaube nicht. Meinst du, man kennt den Namen Preiss hier? Von wegen der Firma.«
    »Bleiben wir bei den Vornamen.«
    Sie haben den Eingang erreicht, ein stabiles Eisentor zwischen mannshohen Betonpfosten. Direkt dahinter macht ein mit Platten ausgelegter Weg einen Knick, so dass außer Tannen nichts zu sehen ist. ›Müller‹ steht neben der Klingel und einem verglasten Kameraobjektiv. Augenblicklich fühlt Kerstin sich beobachtet. Es ist, als würden alle ihre Bemühungen der letzten Jahre – um die Art von Freiheit, die damit einhergeht, bei niemandem Anstoß zu erregen – in dem Moment zunichtegemacht, da Karin Preiss den Klingelknopf drückt und gleich darauf neben der Kamera ein rotes Licht aufleuchtet. Der Rückweg ist abgeschnitten. Sie hätte gerne nach Karins Hand gegriffen, aber die tritt einen Schritt näher an den Eingang heran undbeugt sich zu der Gegensprechanlage, aus der ein leises Knacken und dann eine Frauenstimme erklingt:
    »Einen schönen guten Abend.«
    »Ich hatte angerufen«, sagt Karin.
    »Immer hereinspaziert.« Noch bevor Karin »Danke« sagt, ertönt ein leises Summen, und die Tür springt ein Stück auf. Das rote Licht erlischt.
    Sie folgen dem Weg, dann erhebt sich vor ihnen ein zweistöckiges Familienhaus mit breitem Vorderbalkon. Eine Rasenfläche, frisch gemäht, steigt zur Terrasse hin an. Blumenkübel und eine Hollywoodschaukel stehen dort. Soweit es in der Dunkelheit zu erkennen ist, sind alle Rollläden geschlossen, das einzige Licht brennt über einem Eingang an der Seite, unterhalb der Terrasse. Zum eigentlichen Hauseingang führt eine Treppe, aber dort ist wiederum alles dunkel.
    Kleine

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