Grenzgang
beide Arme von sich und schloss die Augen, als läge er schon im Wasser. Heinrich, der Clown, der es am liebsten mochte, wenn die Leute die Köpfe über ihn schüttelten. Irgendwie muss es schließlich raus, hatte er einmal zu Weidmann gesagt, ohne zu erklären, was ›es‹ war – die Kriegserlebnisse desSechzehnjährigen, die Alpträume oder die Schmerzen in der Hüfte, die ihn von Zeit zu Zeit poltern, wüten und buchstäblich aus der Haut fahren ließen. 1982, am Tag, an dem Helmut Kohl zum Kanzler gewählt worden war, hatte Heinrich Schuhmann morgens beim Aufstehen verkündet: Jetzt gibt’s Birne, war in die Backstube marschiert und hatte weder Brot noch Brötchen gebacken, sondern ausschließlich Birnenkuchen. Ein Blech nach dem anderen, während im Radio die Bundestagssitzung übertragen wurde, Birnenkuchen in allen Variationen, derweil Anni den Kunden im Laden das einseitige Angebot zu erklären versuchte (Mein Mann spinnt), die Auslagen voll mit Birnenkuchen und nichts als Birnenkuchen, der ab zwei Uhr am Nachmittag nur noch unentgeltlich seine Abnehmer fand. Ludwig Benner, unter der Überschrift Jetzt gibt’s Birne , hatte eines der wenigen journalistischen Glanzstücke in der Geschichte des Boten daraus gemacht.
Seine Mutter setzte sich zu Weidmann ins Gras.
»Wir müssen entweder Taxi-Mohrherr anrufen oder den Krankenwagen holen. Auf seinen Füßen wird’s der alte Betonkopf nämlich nicht nach Bergenstadt schaffen. Hier.« Sie zeigte ihrem Sohn einen Zettel mit den entsprechenden Nummern. »Wusst’ ich doch die ganze Zeit schon, was das heute für ein Drama gibt.«
»Er hat’s bis hierher geschafft, vielleicht schafft er die letzten zwei Kilometer auch noch.«
»Sein Hüftgelenk ist hin, Thomas. Hin und futsch.«
»Wir müssen sowieso warten, bis die Veranstaltung hier vorbei ist.« Weidmann steckte den Zettel in seine Hemdtasche und blickte zu Anni Schuhmann, der die Worte ausgegangen waren, aber das Kopfschütteln noch lange nicht, und die nur widerstrebend die Fäuste von den Hüften nahm. Schweigend setzte sie sich neben ihren Mann, während die Aufmerksamkeit der Umstehenden sich wieder nach vorne orientierte, wo ein Mikrofon knackte und der Bürgeroberst auf seinem Pferd saß und die Hand hob zum Zeichen, dass er jetzt was sagen wollte.
»Läss gudd säi«, sagte Heinrich leise. »Mer wisse bäre, ’s wor ’s läzde Mol. In siwwe Joarn läije äich nedd uff, sonnern unner der Erde.«
»Du hälsd jetz die Lufd oh, Heinrich. Zum äschde Mol in däijem Lewe.«
Während der Bürgeroberst sprach, hörte Weidmann unterdrücktes Schluchzen, mal von rechts, von seiner Mutter, und mal von links, wo Anni Schuhmann nach der Hand ihres Mannes gegriffen hatte und sie sich vor den Mund hielt wie ihre eigene. Die Rede selbst kam in den hinteren Reihen wie ein vom Wind zerzauster Lückentext an und schien im Wesentlichen aus Gemeinplätzen zu bestehen: Viel Wald und Gemeinschaft, Heimat und Verbundenheit, Tradition und vernuschelte Satzenden, in denen der Oberst auf seinen Spickzettel sah und seinem Pferd in die Mähne sprach. Es war ein farbenprächtig tristes Panorama, das sich Weidmann darbot: Das weite Tal und die gleichförmigen Hügel, die sonnenglänzenden Autodächer entlang der Bundesstraße, das entrückte Schloss und davor die müde Kavallerie der Grenzgangsreiter und Fahnenträger, all die Uniformierten mit ihren federgeschmückten Hüten, Schärpen, Säbeln und Plaketten. Eine lungernde, in der Sonne bratende Menge, die der Ansprache ihres Generals lauschte oder vor sich hin döste. »… haben wir in unseren Herzen den Grenzgang … bewahrt … Mühen und Freuden …« Der Wind wehte all das Richtung Bergenstadt, das verlassen und sonnenflimmernd im Tal lag. Zu gewöhnlich, um wahr zu sein. Am Vortag, zu Hause auf der Terrasse, hatte Weidmann sich gefragt, wie es wäre, in diesem Kaff zu leben. Die Frage war natürlich ein Witz, aber er meinte sie ernst. Wieder hier leben nach all den Jahren. Den ganzen Tag hatte er überlegt, Konstanze anzurufen, und es nicht getan. Hatte sich gefragt, ob dieses schale Gefühl in ihm mit dem Ausdruck ›schlechtes Gewissen‹ angemessen bezeichnet oder ob er nur peinlich berührt war von seinem Versuch, die erstbeste Frau zu küssen, die er am Grenzgang getroffen hatte, am Rande der Festwiese, wie ein Teenager.
»… die vielen Stunden der Vorbereitung … tagein, tagaus … die vielen fleißigen Hände …«
Oder handelte es sich um
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