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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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achtend, steigt sie die Böschung wieder hinauf. Neben ihr raschelt ein Tier im Gebüsch.
    »Gehen, wohin?«
    »In den Club.«
    »Du bist wie mein Mann.« Karin Preiss rührt sich nicht, jedenfalls hört Kerstin kein Geräusch hinter sich. »Wie mein Mann. Ist dir aufgefallen, dass ich wütend auf dich bin?«
    »Es ist ein Missverständnis.«
    »Du verachtest mich für das, was ich tue.«
    »Nein.« Der Lichtstrahl eines Scheinwerfers erfasst ihr Gesicht, sie dreht sich um und sieht in die Dunkelheit unter sich. Ein Hupen fliegt heran, ein Schrei aus einem Autofenster, dann ist auch das vorbei. »Tue ich nicht.«
    »Sondern?«
    »Lass uns fahren, bitte, bevor ein Auto anhält.« Sie erreicht den Wagen und setzt sich auf den Beifahrersitz. Ein Echo ihres Herzschlages pulst in den Schläfen. Ganz leicht schaukelt ein kleines Duftbäumchen am Rückspiegel hin und her. Sie nimmt eine der Sektflaschen aus der Kühltasche und hält sie sich gegen die Stirn. Sieht nicht auf, als Karin schließlich auf der anderen Seite einsteigt und keine Anstalten macht, loszufahren.
    »Tut mir leid.« Wie eine Träne perlt ein Tropfen Kondenswasser über ihre Nasenwurzel und hinterlässt eine kühle, schnell trocknende Spur.
    »Ich könnte es verstehen, weißt du, aber nicht aushalten.«
    »Ich wollte dir nicht weh tun. Ich wollte gar nichts, es ging mir durch den Kopf, und wenn ich dich verachten würde, müsste ich mich selbst schließlich genauso verachten.«
    »Schon gut.«
    »Noch drei Kilometer, laut dem Schild da hinten.«
    Karin setzt zurück, und sie folgen der Straße, die ohne erkennbare Gründe s-förmig durch die Ebene läuft. Ein eingezäunter Weiher ist die einzige Unterbrechung in der Abfolge von Feldern und Weiden. Das Schweigen wird so dicht, dass Kerstin am liebsten das Fenster geöffnet hätte, dann macht die Straße einen weiteren Bogen und führt in einer langen Geradenauf den Ortseingang zu. Vor der letzten Pappel steckt ein kleines Holzkreuz neben dem Randstreifen. Das Ortsschild leuchtet auf.

    * * *

    Langsam füllte sich die Wiese, und noch immer kamen Wanderer aus dem Wald. Ein nicht abreißender Strom ergoss sich den letzten Abhang hinab und staute sich in der Ebene, aber trotz der gewaltigen Menge zwischen Perlenmühle und Lahn glich der Aufmarsch einer schweigenden Versammlung. Es war die letzte Etappe, der offizielle Abschluss, bevor am Abend im Festzelt endgültig alle Dämme brechen würden. Der Glanz eines noch frühen Nachmittags, ein von Süden her lachender Himmel spannte sich über das Tal. Grüne Hügel wölbten sich hinein. Am Rand der nahen Bundesstraße hielten Autos, und die Insassen stiegen aus, um die Prozession zu beobachten mit über die Augen gelegten Handflächen. Wie die Wäscheleine einer anderen, übermenschlichen Spezies zog sich eine Hochspannungsleitung durch das weite Tal, fast von Horizont zu Horizont. Unbeteiligt hockte das Schloss auf seinem Berg, flimmerte in der Sonne. Weit weg.
    »Hab ich das richtich verstand’n?«, fragte Heinrich. »Keine Universität mehr?«
    »Nie wieder.« Weidmann nickte. Beinahe fühlte es sich gut an, das zu sagen. So ein kurzer entschlossener Satz schien die Ereignisse, deren Opfer er geworden war, nachträglich mit der Souveränität einer eigenen Entscheidung zu versehen, und solange er es vermied, seinem Onkel in die Augen zu sehen, hielt sich das Gefühl. Wie eine Biene vor der offenen Blüte. Roch den süßen Nektar der Illusion.
    Heinrich schüttelte seinen großen Kopf.
    Vom Waldrand her erklang das trockene Knallen der Peitschen, flatterte über die Menge hinweg und verfing sich in den Bäumen entlang der Lahn. Aus den Augenwinkeln konnte Weidmann dieFalten auf Heinrichs Stirn ausmachen, Ausdruck von Zweifel, Unglauben oder von Schmerzen in seiner lädierten Hüfte. Zwei Tage war der alte Mann mit dem Bus auf den Frühstücksplatz gefahren und mit dem Bus wieder nach Hause, aber heute hatte er, als das Signal zum Abmarsch ertönte, den Kopf geschüttelt und den Stock geschwungen und sich von nichts und niemandem umstimmen lassen. Heißt es Grenz gang oder Grenz fahrt ? Harter Glanz in den lachenden Augen, das typische Heinrich-Schuhmann-Gesicht. Der verrückte Bäcker. Zu lange im Ofen gewesen und trotzdem nicht ganz knusper, sagten sie hier. Da hatte die arme Tante Anni auf Granit gebissen und ihrem Neffen schließlich nur das Versprechen abnehmen können, ihn keine Sekunde aus den Augen zu lassen. Bitte, der alte Dickkopf fährt lieber den

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