Grenzgang
Laternen in Knöchelhöhe springen an, sobald sie die Tannen passiert haben und auf das Haus zugehen. Kerstin sieht auf ihre Füße und fragt sich, wann und in welcher Stimmung sie diesen Weg wieder zurückgehen wird. Nervosität hat von ihr Besitz ergriffen und lässt kein angstvolles Phantasieren mehr zu. Alles reduziert sich auf eine trockene Kehle und das Gefühl, nichts tun zu können.
Es ist eine solide hölzerne Kellertür, die sich öffnet, als sie sie fast erreicht haben. Licht fällt von drinnen auf die Platten und gleich darauf der Schatten einer Frau, die ihnen entgegensieht mit vor dem Bauch zusammengelegten Handflächen. In Gastgeberhaltung und mit leicht zur Seite geneigtem Kopf.
»Zwei neue Gäste, wie schön. Kommt rein, meine Lieben.« Ungefähr in ihrem Alter ist sie, schätzt Kerstin, und trägt eine schwarze Schnürkorsage, die einen gebräunten, nicht mehr faltenfreien Brustansatz freilässt. Die Haare hat sie hochgesteckt. Sie ist stark, aber nicht übermäßig geschminkt, nur das viele Blau um die Augen gibt ihrer Miene etwas von der lauernden Aufmerksamkeit einer Katze. Sie stellt sich als »die Gabi« vor. Karin Preiss nennt sich umgehend »die Karin«. Kerstin sagt»Kerstin« und schüttelt eine warme, weiche – im ersten Moment will sie denken: schlüpfrige – Hand. Vor der Hecke, die das Grundstück nach hinten abschließt, entdeckt sie ein kleines Gartenhaus, einen Schuppen für Gartengeräte vielleicht, vor dem eine Schubkarre steht. Es gibt keine Beete, weder Blumen noch Gemüse. Auf dem Rasenstück zwischen Haus und Hecke liegt ein Fußball.
»Kommt herein«, sagt Gabi noch einmal, mit einem Arm in der Luft, als wollte sie ihre Gäste durch sanften Druck auf die Schultern ins Haus geleiten. Ihre Stimme klingt rauchig, passend zu dem Anflug von Verlebtheit in ihrem Gesicht, den sternförmigen Falten um die Augen, die das Make-up nicht überdecken kann. Kerstin spürt das Zusammengekniffene ihrer eigenen Augen, so als wäre sie auf der Suche nach einem Grund, sofort kehrtzumachen und die Tür hinter sich zuzuschlagen. Deutet der Fußball auf die Anwesenheit von Kindern im Haus? Aber alles, was ihr begegnet, sind Gabis freundlicher Blick und die Feststellung:
»Das ist also unser kuscheliges Bohème .« Ohne Anzüglichkeit gesagt. Was zuerst wie ein Tattoo auf ihrem Oberarm ausgesehen hat, entpuppt sich im Licht des Eingangsraums als metallenes Armband. Mehrere Ringe schmücken ihre Hände. Die Fingernägel sind lang und schwarz lackiert, aber es bereitet Kerstin keine Mühe, sie sich mit einer Schürze in der Küche vorzustellen oder in Gummistiefeln im Garten. Die Hände in die Hüfte gestemmt, scheint sie auf eine Antwort zu warten.
»Hübsch«, sagt Karin unbestimmt.
Kerstin fragt sich, ob die Nachbarn wissen, was in diesen Kellerräumen vor sich geht.
Sie betreten einen vertäfelten Eingangsraum mit einer Art Empfangstheke. Entlang der Wand stimmen gerahmte Kamasutra-Zeichnungen den Besucher auf die Aktivitäten des Etablissements ein. Ein Vorhang aus schwarzem Stoff und mit einem Motiv, das Kerstin vage chinesisch vorkommt, verdeckt den Durchgang in die Clubräume. Das Licht ist warm, die Luftebenfalls. In einem Aschenbecher auf dem Pult lässt ein Zigarillo blauen Rauch aufsteigen.
»Wir regeln erst das Finanzielle, dann geb ich euch eine kleine Führung.« Gabi zieht kurz an ihrem Zigarillo und macht sich eine Notiz in einem Block, ansonsten strahlt ihre Aufmerksamkeit den beiden Gästen entgegen. »Das macht pro Person fünfundzwanzig Euro, aber dafür bekommt ihr an der Theke zwei Getränke umsonst. Unser Sonderangebot für Erstbesucherinnen.«
Kerstin fühlt einen Druck im Steiß vom langen Sitzen im Auto und widersteht dem Drang, die Arme vor der Brust zu verschränken. Während sie Gabis Lächeln erwidert, versucht sie ins Innere der angrenzenden Räumlichkeiten zu horchen, vernimmt leise Musik und einige Stimmen, die auf eine kleinere Ansammlung von Personen schließen lassen. Sie hat das dringende Bedürfnis, in einen Spiegel zu sehen.
»Das Bohème «, sagt Gabi in ihrem heiseren Singsang, »ist eine Art Abenteuerspielplatz für Erwachsene. So haben mein Mann und ich uns das jedenfalls gedacht. Unsere Gäste sollen sich amüsieren auf die Art, die ihnen am meisten Freude macht. Es gibt einen Barraum mit ganz kleiner Tanzfläche, einen Entspannungsraum mit Whirlpool – die Sauna machen wir im Sommer nicht an – und einige Räume, größere und kleinere, mit
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