Grenzgang
geht auch.«
»Ich kann den Becher nicht finden.«
»Ich komm schon.« Sie setzte Daniel zurück in sein Stühlchen, ging in die Küche und sah den Trinkbecher signalrot auf dem Tisch stehen. Ihre Mutter wuselte vor dem Fenster hin und her. »Hab ihn schon. War der Nachmittag sehr anstrengend? Ich dachte, er hätte bis vier geschlafen.«
»Das viele Putzen ist nicht gut für meinen Rücken.«
»Das viele … Putzen?« Durch die offene Tür sah sie, wie Daniel die Wirkung der Schwerkraft auf einzelne Brotstücke untersuchte. Am liebsten wäre sie ohne ein weiteres Wort mit ihm nach draußen gegangen, hätte sich auf die Bank hinterm Haus gesetzt und das honigfarbene Licht genossen, ohne einen Gedanken an den Boden in Flur, Ess- und Wohnzimmer zu verschwenden. Sehr sauber hatte der ausgesehen bei der Rückkehr aus dem Wald. Verdächtig sauber. »Sag mir nicht, dass du den Nachmittag damit verbracht hast …«
»So wie es hier überall aussah. Will dein Mann eigentlich den ganzen Abend im Bett verbringen?«
»Mutter, hör mir zu: Ich will nicht, dass du in meinem Haus putzt. Wir sind froh, wenn du uns die paar Tage über mit Daniel hilfst und ein bisschen zur Hand gehst, aber du musst hier nicht die Putzfrau spielen.«
»Boden«, vermeldete Daniel aus dem Esszimmer.
»Ich heb’s dir gleich auf, mein Schatz. Mutter, hast du mich verstanden? Du sollst hier nicht putzen!«
»Wie man’s macht, isses verkehrt.«
»Es ist nicht deine Aufgabe.«
Sie standen hintereinander wie an der Supermarktkasse, als stünden unsichtbare Einkaufswagen zwischen ihnen. Draußen lag der Hainköppel still und verlassen. Alle Grenzgänger waren aus dem Wald zurückgekehrt und machten sich fertig für den abendlichen Besuch im Festzelt, den krönenden Abschluss der Feier. Kerstin sah auf die kräftigen Waden ihrer Mutter, die klobigen Schuhe, die sie getragen hatte, solange ihre Erinnerung zurückreichte, und deren Absätze ein hartes Geräusch machten auf dem Küchenboden in Olsberg. Langsam versickerte ihre Wut, ließ eine Kruste aus Unzufriedenheit zurück und die Frage, warum Mütter es einem immer so schwer machen müssen, die Dankbarkeit auch zu empfinden, die man ihnen schuldet.
Mit Trinkbecher und Geschirrtuch ging sie zurück ins Esszimmer. Sie hörte Schritte oben vor dem Bad und fragte sich, ob Jürgen vielleicht eigenhändig zu Ende gebracht hatte, was eine gemeinsame Unternehmung hätte werden sollen. Daniels Pulli war bereits hin, frischkäsemäßig. Dankbarkeit, die man schuldet, ohne sie zu empfinden – worin unterschied die sich von Groll und schlechtem Gewissen?
»Leg mal die Hagebutten wieder hin, Daniel, die kann man sowieso nicht essen. Ich mach dir noch ein Brot.«
»Buttenbot.«
»Käsebrot. Kä-se-brot.« Sie schmierte eine weitere Scheibe und gab dem Protest ihres Sohnes nach, der es nicht mehr duldete, dass Nahrung ihm von fremder Hand gereicht wurde. Jürgen hatte sich offenbar noch einmal unter die Dusche gestellt. Aus der Erschöpfung von der Wanderung wurde Müdigkeit, und als Daniel schließlich satt und im Gesicht über und über käseverschmiert war, stellte Kerstin fest, dass sie wenig Lust hatte auf einen Abend im Biernebel, mit Grenzgangsliedern unddem vertraulich untergehakten Schunkeln des Festzeltes. Im Wohnzimmer war ihre Mutter damit beschäftigt, Zeitschriften zu stapeln und Kissen auszuklopfen. Jürgen kam die Treppe herunter. Frisch rasiert, im weißen Hemd des Fahnenträgers.
»Du bist noch im Bademantel?«
»Anita wollte anrufen, bevor sie losgeht.«
Er setzte sich an den Tisch und klaubte ein paar Brotkrumen auf, schien nicht zu bemerken, dass jemand aus seinem Stühlchen heraus ihn mit großen Augen ansah. Sein Rasierwasser kam ihr ein wenig zu aufdringlich vor für den Abendbrottisch.
»Tu mir einen Gefallen, Jürgen, renn noch ein bisschen mit deinem Sohn durch den Garten und leg ihn auf den Wickeltisch. Ich brauch eine Viertelstunde.«
»Ich wollte demnächst los.« Jetzt hatte er Daniels Blick bemerkt.
»Aha.«
»Sag nicht aha; du weißt doch, dass ich als Fahnenträger mitlaufen muss beim Zug.«
»Aber vielleicht musst du als Familienvater vorher noch eine Windel wechseln.« Sie sah ihn an, bemüht, seinen Missmut mit großen Augen aufzufangen und ihn daran zu erinnern, dass ihre letzte Umarmung noch keine zehn Minuten zurücklag. Nicht zum ersten Mal wunderte sie sich, wie viele unterschiedliche Gefühle Platz hatten in einer beliebigen Sekunde der Zeiteinheit
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